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Breaking Bad S05E16: Felina

Breaking Bad S05E16 Walt

© AMC

Mehr als zwei Jahrtausende, bevor das Finale einer hochgelobten amerikanischen Serie über unsere Bildschirme flimmerte, hat Aristoteles in seiner Poetik die Grundlagen vollendeter Dichtkunst formuliert. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Tragödie als Erzählform, die Zuschauer Jammer und Schaudern lehren soll. Nach den Ausführungen des Philosophen stellt sich Jammer ein, wenn über einen Helden unverdientermaßen das Elend hereinbricht. Schaudern wird hervorgerufen, indem man einen Protagonisten, der den Zuschauern ähnelt, ins Verderben stürzt. Das Durchleben dieser Gefühlszustände wird als Katharsis bezeichnet und soll das Publikum von seinen eigenen Verfehlungen reinwaschen. Um in einem Drama besonders viel Jammer und Schaudern zu erregen, hat Aristoteles ein Regelwerk erstellt, nach dem das Schicksal der Protagonisten gestaltet werden soll.

Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich.

Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat, sie ist weder menschenfreundlich noch jammervoll noch schaudererregend.

Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern.

So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers.

Auf diesen Überlegungen baut das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit auf. Das Drama ist ein Mikrokosmos, in dem alle Handlungen nach strikten moralischen Prinzipien bewertet werden. Tugend wird belohnt, Laster werden bestraft. Es gibt demnach auch keinen glücklichen oder unglücklichen Ausgang, sondern nur einen verdienten oder unverdienten. Nach den Regeln der Kunst ist Breaking Bad eine perfekte Tragödie. Der Held, den wir eingangs kennenlernen, ist ein Durchschnittsmensch. Es ist nicht Untugend, die ihn ins Unglück stürzt, sondern ein Fehler. Wir jammern, wenn wir sehen, wie Walt scheinbar unverdientermaßen leiden muss, und wir schaudern, weil er uns so ähnlich ist, dass sein Schicksal auch uns treffen könnte. Trotzdem gibt es nur ein mögliches Ende: Das Verderben.

Das Publikum wird vorgeführt

Nach den Richtlinien von Aristoteles hat Vince Gilligan versagt. Wenn man seine persönlichen Umstände betrachtet, kann Walter Whites Ende nur als glücklich bezeichnet werden. Er hat seine Krebsdiagnose um zwei Jahre überlebt, was an ein Wunder grenzt. Die Behandlungskosten sind bezahlt und seine Hinterbliebenen bis an ihr Lebensende versorgt. Einzig das Verhältnis zu seiner Familie hat sich in den letzten Monaten stark verschlechtert: Ein kleiner Preis, wenn man an all die Menschen denkt, die sterben mussten, damit er seine Pläne umsetzen konnte. Anstand mag Walt am Anfang noch besessen haben. Mit Blick auf sein Ende passt er aber am besten in die Kategorie des Schufts, dem unverdientes Glück zuteil wird. Die untragischste aller Wendungen, sagt Aristoteles.

Vielleicht ist es nicht die Schuld der Serie, dass sie sich nicht nach der antiken Dramentheorie richtet. Vielleicht lassen sich derart eng gefasste Regeln einfach nicht auf eine derart komplexe Erzählung anwenden. Breaking Bad mag dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit nicht vollständig Rechnung tragen, doch dafür wird es seinen Zuschauern vollends gerecht. Gilligan hat erkannt, welch vielschichtige Beziehung das Publikum zu seinem Helden hat. Fünf Jahre lang wurde uns mit minutiöser Präzision gezeigt, wie sich Walter White von einem guten Menschen in einen bösen verwandelt. Und dennoch sehen wir am Ende der Metamorphose kein mordendes Monster, sondern ein Wesen, das sich bei all seinen Fehlern ein Stück Menschlichkeit bewahrt hat.

Nicht zuletzt soll die Geschichte beweisen, dass das Böse in uns allen steckt. Wie ließe sich dieses Kunststück besser bewältigen, als den Zuschauern bis zuletzt ihre eigenen Sympathien für den Antihelden vorzuhalten? Während das Publikum des antiken Dramas nach dar Katharsis also mit leichtem Herzen aus dem Drama kommt, wird das Publikum von Breaking Bad nach Abschalten des Fernsehers erst einmal seine eigenen Abgründe erforschen müssen. Wir werden nicht in einer vorgefertigten Moral bestätigt, sondern dazu angehalten, unsere eigenen Prinzipien neu zu durchdenken. In seinem Bemühen, den Abschied möglichst leicht zu machen und alle Zuschauer zufriedenzustellen, wirkt das Serienfinale zunächst ziemlich platt. Erst beim näheren Hinsehen wird die versteckte Raffinesse offenbar.

Alles verläuft nach Plan

Es ist erstaunlich, wie gut es den Autoren am Ende gelungen ist, alle Handlungsstränge zusammenzuführen. Dennoch mussten sie auf Tricks zurückgreifen, um gewisse Unklarheiten zu beseitigen. Nachdem er die Adresse der Schwartzes in Erfahrung gebracht und den Hörer aufgelegt hat, trennt Walt sich von seiner Armbanduhr. Seit seinem einundfünfzigsten Geburtstag ist Jesses Geschenk sein fester Begleiter. Walt ist zwar in geheimer Mission unterwegs und darf nicht erkannt werden, doch der praktische Nutzen der Uhr ist ungleich größer als das Risiko der Enttarnung. Es gibt einen einfachen Grund für seinen rätselhaften Schritt: Das Cold Open in Live Free or Die wurde gefilmt, bevor das endgültige Finale feststand. Seine Uhr trägt er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Ein letztes Mal schafft es Walt, uns zu überraschen. Er besucht Gretchen und Elliott nicht, um ihnen etwas anzutun. Vielmehr braucht er ihre Hilfe, um das verbliebene Geld an seine Familie weiterzugeben. Walt achtet peinlich darauf, dass die beiden Wohltäter auf keinen Fall in die eigene Tasche greifen müssen. Das gebietet seine Ehre. Schon einmal hat er die finanzielle Unterstützung der ehemaligen Geschäftspartner zurückgewiesen und sich für eine Laufbahn als Verbrecherkönig entschieden. Die Ironie will es, dass Gretchen und Elliott am Ende trotzdem achtundzwanzig Millionen Dollar für Walt bezahlen. Neun Millionen sind eine gigantische Summe. Aber neben dem Scheck von Gray Matter wirken sie so lächerlich wie Walts verbissener Stolz.

Trotzdem verlaufen die letzten Tage von Walts Leben ganz nach Plan. »Seven hundred and thirty-seven thousand dollars. That’s what I need.« Bescheiden wirken die Ansprüch der Anfangszeit mit dem, was Walt in der Zwischenzeit verdient und wieder verloren hat. Am Ende bleibt jedoch genug Geld übrig, damit Skyler und ihre Kinder nie wieder arbeiten müssen. Der Fall Heisenberg wird womöglich bald zu den Akten gelegt, nachdem die Position der toten DEA-Agenten bekannt ist und Walts sich nicht mehr hinter Gitter bringen lässt. Skyler hat gute Chancen auf einen Freispruch. Sie wird noch lange damit beschäftigt seine, ihre eigene Schuld zu verarbeiten. Aber dank Walts Vermächtnis stehen ihr alle Mittel zur Verfügung, um einen Neuanfang zu wagen.

Bekenntnis eines Egoisten

Walt wirkt gelöst, als er sich von seiner Familie verabschiedet. Er hat die Vergangenheit bewältigt und ist bereit für die Zukunft. Diesmal möchte er alles richtig machen, sich nicht länger hinter falschen Rechtfertigungen verstecken. »I did it for me. I liked it. I was good at it. And I was really … I was alive.« Walt wirkt geläutert. Skyler geht davon aus, dass er Verantwortung übernehmen und sich der Polizei stellen wird. Noch ist es für Vergebung nicht zu spät, wenn der Sünder wahre Reue zeigt und bereit ist, Buße zu tun. Aber solche Gedanken sind Walt fremd. Bis zum letzten Moment sinnt er auf Rache. »If you believe that there’s a hell, we’re already pretty much going there, right?«

Es müssen noch einige Menschen sterben, bevor Walt sich selbst zur Ruhe legen kann. Es ist fraglich, ob die verbliebenen Widersacher seiner Familie wirklich zur Gefahr werden könnten. Wahrscheinlich sucht Walt eine Möglichkeit, ein letztes Mal seinem Egoismus zu frönen. Er hat denjenigen, die ihn verraten haben, noch nicht verziehen. Lydia ereilt deshalb das selbe Schicksal, vor dem sie zuvor nur knapp bewahrt wurde. Die Todesart passt zu ihrer korrekten Art und der Maxime, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen. Jack und seine Leute hingegen kommen nicht so glimpflich davon. Vermutlich hat Walt auch Jesse noch nicht vergeben und macht ihn teilweise für Hanks Tod verantwortlich. Der alte Mann rüstet sich zum letzten Gefecht. Niemand soll verschont werden.

Das M60 wütet gnadenlos und durchsiebt alles, was sich in seiner Nähe befindet. Trotzdem zieht es eine klare Linie zwischen Gerechten und Ungerechten. Die meisten Nazis sind auf der Stelle tot, nur die beiden größten Schurken werden kurzzeitig verschont. Sie sollen ihren Rächern persönlich in die Augen blicken. Walt rechnet eiskalt mit dem Mann ab, der seinen Schwager auf dem Gewissen hat. Jesse übt Vergeltung an dem Mörder seiner Freundin. Doch Walt gehört selbst nicht zu den Gerechten. Er ist befleckt, mit Schuld und mit Blut. Jesse nestelt hastig an seinen Fesseln, um so kurz vor der Freiheit nicht noch dem Zorn seines ehemaligen Partners zum Opfer zu fallen. Er merkt nicht, dass Walt sich längst dafür entschieden hat, ihn am Leben zu lassen.

Ein Kunstwerk

Jetzt, wo das Rattern des Maschinengewehrs verklungen ist, sollen keine Kugeln mehr fliegen. Das findet Walt und reicht Jesse seine Waffe. Er soll ihn richten. Doch auch Jesse sieht keinen Grund mehr, nach so viel Blutvergießen ein weiteres Leben zu nehmen. In letzter Zeit gab es im Schicksal von Walt und Jesse viele Parallelen. Sie verschworen sich gleichzeitig gegeneinander und versuchten erfolglos, das Gegenüber in eine Falle zu locken. Danach waren sie monatelang eingesperrt. Nun können sie sich zur gleichen Zeit losreißen. Hier endet die Ähnlichkeit: Walts Triumph ist von kurzer Dauer; er stirbt inmitten seines Imperiums aus Gasmasken und Erlenmeyerkolben. Jesse dagegen ist wirklich frei. Wenn er einen jungen Walt verkörpert, dann steht er für den Sieg der richtigen Entscheidung. Eine zweite Chance.

Breaking Bad ist ein Kunstwerk. Walts Geschichte mag so einfach wirken wie sie geradlinig ist, doch die Urheber vollbringen eine Meisterleistung. Sie schaffen es, die Spannung über fünf Staffeln hinweg stetig wachsen zu lassen und genau im richtigen Moment den Schlussstrich zu ziehen. Sie achten auf kleinste Details und behalten trotzdem immer das Wesentliche im Blick. Sie arbeiten auf eine völlig einzigartige Weise mit Bild, Ton und Tempo und erschaffen dadurch eine neue Form des Erzählens. In einer Zeit, in der das klassische Fernsehen immer mehr Zuschauer verliert, hauchen sie dem Medium wieder Leben ein. Und setzen neue Maßstäbe. Dem Geschmack der Masse wird die Serie nicht unbedingt gerecht werden. Doch wer zusieht, wird belohnt. Nicht zuletzt durch ein gelungenes Finale.

»You look terrible,« sagt Sykler beim Abschiedsgespräch mit Walt. »Yeah. But I feel good.«

Florian Lehmuth
8. Oktober 2013
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