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Konzentration

Peaceful Ocean

CC-BY-NC-ND: Emdot

Nur nicht den Tab wechseln, lautet die Devise. Das ist ungefähr so einfach, wie einem Junkie auf Zwangsentzug zu verbieten, an neuen Stoff zu denken. Ich werde mich zwingen, auf den blinkenden Cursor zu fokussieren, inmitten eines blütenweißen, unberührten Textfeldes. Einfach schreiben steht am unteren Rand, als wüsste das Programm besser als ich, wie es um meine Selbstdisziplin steht. Ich werde versuchen, den wild sprudelnden Gedankenstrom so gut wie möglich in Worte zu fassen. Ich werde mich so gut wie möglich zusammennehmen, um nicht an drei Stellen gleichzeitig mit Halbsätzen zu hantieren. Ich werde nicht nach zwei Absätzen abbrechen, wie das mit all den anderen Textstummeln passiert ist, die noch irgendwo im Archiv auf ihre Fertigstellung warten.

An Ideen fehlt es nicht. Die Sätze kommen mir fast so rasch in den Sinn wie in den Minuten kurz vor dem Einschlafen, wenn das mentale Diktat beinahe ohrenbetäubend laut ist. Nur habe ich noch keine Möglichkeit gefunden, die Einfälle in jenen Momenten irgendwie festzuhalten. Es bleibt also nur die harte Tour. Ich werde mich einfach hinsetzen und schreiben. Das ist leicht gesagt; der Plan lässt die Versuchungen der digitalen Welt außer Acht. Die Rechnung wird ohne all die bunten Reiter gemacht, die alle Ablenkung und Unterhaltung auf Knopfdruck versprechen. Mein Browser ist wie ein prall gefüllter Adventskalender und ich bin das ungezogene Kind, das schon am ersten Tag alle Türchen öffnet. Bestrafung gibt es keine.

Wann hat das angefangen? Wann habe ich vergessen, wie man sich auf eine einzelne Aufgabe konzentriert? Früher konnte ich Bücher lesen, von Anfang bis Ende, ohne ein einziges Mal abzusetzen. Heute stellen schon längere Zeitungsartikel eine nicht zu unterschätzende Hürde dar, doch dafür lese ich zehn auf einmal. Eigentlich ist es sogar ganz einfach, den entscheidenden Zeitpunkt für die mentale Abwärtswende festzustellen: Der Abstieg muss zweifelsfrei mit dem ersten eigenen Internetzugang begonnen haben. Ich hatte auf einen Schlag alles und hatte doch nichts. Das ist die Tragik unserer Zeit: In der Epoche, in der es so viel freies Wissen gibt wie noch nie, ist die Gefahr der geistigen Stagnation höher als jemals zuvor.

Die Zahl der momentan geöffneten Tabs beträgt zwanzig. Das ist guter Durchschnitt. Darunter sind diverse Texte, die ich nach der Hälfte abgebrochen habe, um später wieder zurückzukehren. Musikvideos, die ich kurz angespielt habe und dann wieder angehalten. Eine Folge von The Wire, pausiert nach einer halben Stunde, weil eine innere Stimme einen lauten Ruf nach einer sinnvolleren Beschäftigung von sich gab. Mein Arbeitsverhalten dürfte schweren ADS-Patienten in nichts nachstehen. Schnell noch einmal Twitter und Facebook checken, vielleicht passiert ja zufälligerweise einmal etwas Interessantes. Ein kurzer Blick in E-Mail-Postfach, das ich zwar vorhin schon geleert habe – aber egal. Refresh refresh refresh. Oh, zeigt das Google-Reader-AddOn etwa einen neuen Artikel an?

Der Cursor blinkt unbeeindruckt. Ich muss an die Studie denken, die ergibt, dass Social Media verlockender ist als Schlaf oder Sex. An die Untersuchungen, die zeigen, dass schon die kleinste Ablenkung die Konzentration für die nächste halbe Stunde in den Keller fallen lässt. Multitasking ist eine Lüge, ganz klar. Multitasking ist die perfekte Ausrede für die faule und hinterlistige Seite meiner Persönlichkeit, die Arbeit so lange mit Abwechslung garniert, bis sie in dem Chaos völlig untergeht und ganze Tage verloren gehen. Multitasking bedingt Prokrastination, und mehr Prokrastination schafft gleichzeitig immer mehr Unruhe. Das Problem der Unaufmerksamkeit wird zu einem erbitterten Kampf in Sachen Willensstärke.

Warum sollte ich irgendetwas auswendig lernen, wenn ich es auch zu jeder Zeit nachschlagen kann? Warum mich mit nüchternen TED-Talks abmühen, wenn ich mir auch zum fünften Mal die selben alten Futurama-Folgen ansehen kann? Warum meinen Kopf mit langen Reportagen quälen, wenn es auch eine Fotostrecke gibt? Es ja nicht so, als wüsste ich nicht, was gut für mich ist. Aber das schlechte Gewissen ist schnell ruhiggestellt, wenn die Bilder nur bunt genug sind, die Musik schön laut, das Tempo konstant hoch. Muss ich mir eingestehen, dass Freiwilligkeit für mich immer Scheitern bedeutet? Dass ich nur unter absolutem Zwang funktioniere? Dass ich meine Ziele immer höher und höher stellen muss, um wenigstens einen Bruchteil davon zu erreichen?

Die ständigen Zweifel tragen nur weiter zur steigenden Nervosität bei. Ruhe ist, wenn das WLAN unerwarteterweise ausfällt und die Offline-Videobibliothek erschöpft ist. Wenn ich unterwegs bin und die Vorteile eines nichtexistenten Datentarifs genieße. Was für ein Paradoxon, dass ich mich ausgerechnet dort konzentrieren kann, wo es am hektischsten ist. In der U-Bahn, eingequetscht zwischen Menschen, umgeben von einem wilden Stimmengewirr, nebenbei stets das unangenehme Quietschen von Rädern auf Schienen im Ohr. Sollte ich meine Arbeit ab sofort also einfach einpacken und lange Runden auf der Ringbahn drehen? Weiß die Deutsche Bahn gar von dieser Marktlücke und füllt sie deshalb ganz bewusst mit ihren langsamen, Wifi-freien Zügen?

Am schlimmsten an der Sache ist die Erkenntnis, dass ich offenbar auf ein Problem gestoßen bin, für das noch niemand eine Lösung gefunden hat. Es soll erfolgreiche Drehbuchautoren geben, die speziell Leute dafür einstellen, dass sie sie vom Abschweifen abhalten. Oder ganze Manager-Riegen und komplette Studentenschaften, die nur noch auf Ritalin produktiv sein können. Einige der erfolgreichsten Menschen der Welt setzen sich erbittert dafür ein, dass Flugzeuge als letzte Bastion der Ungestörtheit von Internetzugängen verschont bleiben. Es werden Programme entwickelt, die für eine definierte Zeit die Leitung kappen, damit man Rechner endlich auch zum Arbeiten nutzen kann. Haben wir uns vielleicht einfach überschätzt? Hat die Evolution der Technik die Anpassungsfähigkeit des Menschen überholt?

Die Antwort der entschlossenen Digital-Apologeten, von denen ich mich ja eigentlich gar nicht distanzieren möchte, ist kurz und fast schon versöhnlich: Keine Panik. Du wirst schon lernen, damit klarzukommen. Möchte mir etwa jemand zeigen, wie das geht? Kann ich denn das Konzentrieren auch wiedererlernen? Vielleicht hilft es ja schon, wenn ich mich selbst ein wenig besser kennenlerne und öfter einen entschlossenen Punkt setzen kann, wo jetzt noch ein Fragezeichen steht. Den Tab habe ich jedenfalls die ganze Zeit über nicht gewechselt. Ein Anfang. Ich werde meine Konzentrationsübungen auch mit Sicherheit gleich fortführen. Gleich, nach einem kurzen Besuch bei Twitter und Facebook, nach den zehn Zeitungsartikeln, den drei Musikvideos und einer halben Stunde The Wire.

Florian Lehmuth
31. Januar 2013
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