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Breaking Bad S05E08: Gliding Over All

© AMC

Als ich das erste Mal durch Zufall auf Breaking Bad stieß, zog mich vor allem die Ruhe in den Bann, die trotz der inhaltlichen Turbulenzen stets zu spüren war. In meiner Rezension schrieb ich damals begeistert: »Statt Tempo wird hier die totale Entschleunigung praktiziert.« Das mag zunächst absurd klingen, wo doch im Zentrum der Geschichte Verrohung und Gewalt stehen. Doch erst in Kombination mit den Aufnahmen der heilsamen Natur entfaltet die Erzählung ihre volle Wirkung, erst durch die ausgedehnten Szenen im Hause der Whites wird deutlich, was die Charaktere wirklich bewegt. Jedem Moment der Eskalation geht eine detaillierte Beschreibung der Ursachen zuvor und es folgt eine genaue Betrachtung der Auswirkungen. Die Serie atmet.

Immer wieder wurde von Zusehern der fünften Staffel die Beschwerde geäußert, das Erzähltempo sei in letzter Zeit stark angezogen worden. Das lässt sich nicht leugnen, wenn man beispielsweise auf die letztwöchige Folge blickt und feststellt: Walts Kooperation mit Declan, der Ausstieg von Mike und Jesse, die Entdeckung einer neuen Spur durch die DEA, Todds Einstieg in die Chemie und schließlich Mikes tragisches Ende – soviel Stoff hätte früher leicht mehrere Folgen, wenn nicht gar eine ganze Staffel gefüllt. Noch auffallender wird die gesteigerte Handlungsdichte in der letzten Episode für dieses Jahr, die in ihrer Hektik gar den Pilotfilm übertrumpft.

Meine beiden Lieblingsfolgen sind 4 Days Out und Fly, beides Bottle-Episoden, die sehr handlungsarm und dialogzentriert sind und mit dem vorrangigen Ziel geschaffen wurden, Produktionskosten einzusparen. Gerade weil augenscheinlich so wenig passiert, bekommt man einen viel intimeren Einblick in die Gefühlslage der Protagonisten. Doch auch, wenn eine Folge so viele atemlose Momente enthält wie die vorliegende, gelingt es den Autoren, ausreichend Platz für Dialoge und Figurenentwicklung freizuräumen. Die Beseitigung von Mikes Leiche wird komplett ausgeblendet, dafür trifft Walt auf einen besorgten Jesse, der sich fragt, was mit den zehn Hintermännern geschehen soll. Deren Liquidierung übernimmt Walt, wobei die Vorbereitung auch auf der Leinwand deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Tat selbst.

Selbst die banalsten Szenen in Breaking Bad werden durch Kameraperspektive, Komposition und Schnitt vergoldet. Die folgenden zwei Minuten jedoch, wunderbar unterlegt mit Nat King Coles “Pick Yourself Up”, bilden das dichteste Erlebnis, das die Serie je geboten hat – zusammen mit dem anschließend gezeigten Arbeitsmarathon, der passenderweise von Tommy James’ “Crystal Blue Persuasion” untermalt wird. Nur ein einziger Fauxpas passiert den Autoren, ein einziges Mal brechen sie aus ihrer sonst so sorgfältig koordinierten Chronologie aus: »Whacking Bin Laden wasn’t this complicated,« meint Todds Onkel zu dem Auftrag, zehn Menschen in drei verschiedenen Gefängnissen innerhalb von zwei Minuten zu töten. Wenn wir Walts fünfzigsten Geburtstag mit Ausstrahlungsbeginn im Jahr 2008 verorten, befinden wir uns mittlerweile im Frühjahr 2009.

Ziemlich enttäuscht war ich auch, dass der Sprung in Walts dreiundfünfzigstes Lebensjahr nach Live Free or Die kein einziges weiteres Mal vollzogen wurde. Die letzten drei Cold opens gingen nahtlos in den Hauptteil über und auch wenn die dargestellten Szenen zweifellos bemerkenswert waren, verpuffte dennoch der erzählerische Effekt einer völlig losgelösten Einleitung. Die Autoren lassen den verstörenden Zeitsprung also bewusst isoliert stehen und verzichten darauf, wie in der zweiten Staffel mit dem rosanen Teddybären Schritt für Schritt ein düsteres Zukunftsszenario aufzubauen. Doch immerhin kommen wir der Zukunft ein ganzes Stück näher, indem in Gliding Over All erstmalig ganze drei Monate im Zeitraffer dargestellt werden.

Ich habe noch immer keine genau Antwort auf die Frage gefunden, welche Funktion Lydia eigentlich erfüllt. Tatsächlich scheint ihre Hauptaufgabe, wie ich bereits festgestellt habe, die Verkörperung einer starken Frau zu sein, nachdem Skyler unter Walts Einfluss gebrochen ist. Für Heisenberg wird sie jedoch entbehrlich, sobald sie ihm die Namen der zehn Teilhaber mitteilt. Sie ist so schlau, ihn weiterhin von sich abhängig zu machen, indem sie ihm über Madrigal einen neuen Vertriebsweg in die Tschechische Republik anbietet. Erst letzte Woche hat Walt Declan geschickt umgedreht und anstatt in seinen Diensten für ihn zu kochen vereinbart, dass jener ab sofort das schmutzige Straßengeschäft für ihn übernehmen soll. Gus als letzter Vorgesetzter Walts ist lange tot, doch nun gibt es wieder eine Instanz über ihm. Das sollte ihm zu denken geben, ihn möglicherweise etwas erden. Tut es aber nicht.

Mehrfach wird in dieser Folge auf vergangene Zeiten angespielt. Gleich zu Beginn lässt sich eine Stubenfliege auf der Schreibtischlampe im Büro von Vamonos Pest nieder und putzt sorgfältig ihre Fühler. Walter beäugt sie interessiert, lässt sich jedoch nicht im Geringsten von ihr irritieren. Ganz anders ein paar Monate zuvor, als er in der berühmten Fly-Episode fast wahnsinnig wurde, weil das Superlab durch eine ebensolche Fliege kontaminiert worden war. Bekannt kommt ihm auch das Gemälde vor, das einen Mann auf offenes Wasser rudern zeigt, während ihm seine Familie zum Abschied zuwinkt. Es hängt an einer Wand im Motel, in dem er sich mit Todds Onkel trifft, war aber auch schon in der Praxis des Psychologen zu sehen, als er in Bit by a Dead Bee einen Gedächtnisschwund vortäusche. Nach der Routineuntersuchung bei seinem Onkologen stößt Walt erneut auf den Handtuchspender, den er am Ende von 4 Days Out verbeulte, als er erfuhr, dass er sich in Remission befinde. All diese Andeutungen weisen auf Momente der Vergangenheit, in denen er Schwäche zeigte. Von dieser Schwäche ist keine Spur mehr übrig, im Gegenteil: Er fühlt sich richtig wohl in seiner Rolle als Monster.

Auch die Zusammenarbeit mit Todd scheint sich gut entwickelt zu haben. Drei Monate lang klappt alles reibungslos, drei Monate lang kochen die beiden pausenlos und scheffeln Millionen. So lange, bis Walt merkt, dass seine einst so abwechslungsreiche, aufregende Tätigkeit als Chef der Unterwelt zu einem weiteren 9-to-5-Job geworden ist. Er langweilt sich. Als Skyler ihm den überwältigenden Berg Geld zeigt, für den er all die Zeit gearbeitet hat, ist er sprachlos. Zwar kaufe ich es ihm nicht ab, dass er selbst nicht weiß, wie viel er verdient hat, wo er doch sonst mühelos die höchsten Zahlen in seinem Kopf jongliert. Doch in diesem Augenblick müsste er sich vor Skyler sein eigenes Versagen eingestehen, würde er die Summe nennen. Jeder Dollar, der nicht gewaschen werden kann, ist wertlos.

Es ist Zeit für den Ausstieg. Daran nicht ganz unbeteiligt mag der Arztbesuch sein, bei dem ein CT-Scan mit bislang unbekanntem Resultat durchgeführt worden ist. In wenigen Monaten wird Walt wieder Tabletten schlucken müssen. Bis dahin soll die Familie repariert werden. »I’m out,« verkündet er seiner Frau und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit sieht im Skyler wieder in die Augen. Als die Whites zusammen mit Hank und Marie im Garten sitzen und über selbstgebrautes Bier und Haarkuren sprechen, wirken sie wie eine ganz normale Familie. Walts Angstrengungen zahlen sich endlich aus. Er gibt sich sogar so großzügig, Jesse endlich seinen Anteil auszuzahlen und sein Verhältnis mit ihm wieder in Ordnung zu bringen. Jesse hingegen leidet Todesängste und würde ihn am liebsten nie wieder sehen. Doch im großen Finale soll er nicht fehlen.

Beim Duschen ist Walt verwundbar, das zeigt sich an der markanten Narbe, die von seiner Operation zurückgeblieben ist. Im gleichen Zusammenhang sieht man eine alte Ausgabe von Walt Whitmans großem Gedichtzyklus Leaves of Grass, die uns schon zwei Mal begegnet ist. In Sunset rezitierte Gale When I Heard the Learn’d Astronomer und noch in der gleichen Folge las Walt in seinem Single-Apartment still aus dem Kompendium auf seinem Schoss. Bei seinem Wiedereinzug in die Negra Arroyo Lane befand sich auch Leaves of Grass in einem der Kartons. Nun hat der Gedichtband einen neuen Stammplatz auf dem Spülkasten im Bad gefunden. Die Rolle des Buches lässt sich unmöglich vorraussagen, doch immerhin deutet auf seinen Stellenwert hin, dass der Titel der Episode einem weiteren Whitmanschen Gedicht entnommen wurde.

Gliding o’er all, through all,

Through Nature, Time, and Space,

As a ship on the waters advancing,

The voyage of the soul—not life alone,

Death, many deaths I’ll sing.

“Gliding O’er all”

Aber wer wäre schon auf die Idee gekommen, das Buch könnte ein Geschenk von Gale sein? Dadurch, dass es so kurz nach der ersten Erwähnung Whitmans auftauchte, ging ich instinktiv davon aus, Walt habe es sich selbst gekauft. Mit Gales Inschrift wird das Objekt plötzlich zu einer Trophäe, die in den falschen Händen sehr gefährlich werden kann. Walt hat in letzter Zeit zwar eine ungeheure Eitelkeit an den Tag gelegt, aber trotzdem hätte er sich niemals bewusst in Gefahr gebracht. Offenbar hat sich das geändert. Man sollte davon ausgehen, dass Walt die Konsequenzen seiner Handlungen sehr genau überschaut, immer ein paar Schritte vorausdenkt. Das hat er im Kampf gegen Gus gelernt. Wie kommt er also dazu, diese verräterische Trophäe öffentlich im Haus seiner Familie auszustellen?

Walts Leben ist mittlerweile wieder so eintönig wie zu seiner Zeit als High-School-Lehrer. Er hat alle nennenswerten Gegner besiegt und so viel Geld erwirtschaftet, dass es seine Familie selbst in mehrere Gerationen hinein nicht wird ausgeben können. Er ist hoffnungslos unterfordert. Noch dazu bleibt ihm nicht viel Zeit, bis der Krebs zurückkehrt und seinem Leben ein Ende setzt. Seine letzte Herausforderung ist der Zufall. Als er damals von Gus praktisch schon besiegt worden war, setzte er sich neben den Pool und ließ seine Pistole auf einem kleinen Gartentisch rotieren. Zwei Mal zeigte die Mündung auf ihn. Beim dritten Mal konnte er nicht mehr zusehen, doch der Lauf drehte sich in Richtung eines Blumentopfes mit Maiglöckchen. Dieser Moment markiert die Wendung, die ihm zum Sieg verhalf. Was wäre wohl passiert, wenn die Mündung wieder auf ihn gezeigt hätte?

Leaves of Grass liegt auf Walters Toilette, weil er sich heimlich nichts anderes wünscht, als endlich entdeckt zu werden.

Florian Lehmuth
24. September 2012
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