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Casey

Casey Neistat Frisbee

© C.S. Muncy

Vor kurzem ist mir aufgefallen, dass mir viele Vorbilder meiner Jugend nur noch wenig bedeuten. Schuld daran bin ich natürlich selbst, ich werde reifer und bekomme eine genauere Vorstellung von mir selbst und meinen Zielen. Dass ich in diesem Leben noch Punkrock-Sänger werde? Privatdetektiv oder Modedesigner? Eher unwahrscheinlich. Das bedeutet dann eben auch, dass heute andere Menschen die besseren Antworten auf meine Fragen haben und Visionen, die mir bedeutsamer erscheinen. Einer davon ist Casey Neistat, ein furchtloser Abenteurer mit scheinbar unerschöpflichen Energiereserven und nebenbei Filmemacher aus New York.

Wie es mir bei vielen viralen Internetsensationen passiert, bin ich in den letzten Jahren schon mehrfach über Videos von Casey gestolpert, ohne einen Zusammenhang zu registrieren. Ich habe gesehen, wie er von der Polizei dafür verwarnt wurde, mit dem Fahrrad nicht in der richtigen Spur zu fahren, und dann absichtlich gegen alle Hindernisse fuhr, die man in einer Fahrradspur so antrifft. Ich habe von ihm gelernt, wozu man die Notbremse in der U-Bahn benutzen sollte, ihn während des Hurricans Sandy mit dem Fahrrad begleitet und beobachtet, wie er seine gesamte Ausrüstung in einem Taxi liegen ließ. Noch viel mehr solcher Unternehmungen findet man in seinem YouTube-Channel, wo sich allein in diesem Jahr viele Millionen Views angesammelt haben.

Einfach verdammt cool

Irgendwann merkte ich dann, dass hinter all diesen Kurzfilmen ein und dieselbe Person steckt. Auffallen müssen hätte es mir schon viel früher, denn Caseys Stil ist so einzigartig wie markant. Die Qualitätskriterien der alten Schule wirft er regelmäßig über den Haufen. Seine Kameras sind klein und liefern nicht das beste oder ruhigste Bildmaterial, dafür passen sie in jede Hosentasche und sind sofort einsatzbereit, wenn es etwas zu dokumentieren gibt. Soll ein Video mit Texten oder Grafiken aufgewertet werden, setzt sich Casey nicht etwa an den Rechner, sondern greift zu Stift, Schere und Papier, um seine eigenen Stop-Motion-Sequenzen zu produzieren. Das Ergebnis sieht dann nicht nur höchst individuell, sondern auch einfach verdammt cool aus.

Wenn es aber ein zentrales Stilmittel in seinem Werk gibt, dann ist es die Tatsache, dass er absolut keinen Unterschied zwischen Berufs- und Privatleben macht und stets selbst als wichtigster Protagonist auftritt. Die Biografie des 32-Jährigen ist schnell erzählt, wenn man sich an die Fakten hält, mit denen er sich selbst verklärt hat. Mit sechzehn zog er von zu Hause aus, mit siebzehn wurde er Vater und lebte in einem Wohnwagen. Im Jahr 2001 kam er bettelarm nach New York City, kaufte sich mit dem letzten Geld auf seiner Kreditkarte einen iMac und begann zusammen mit seinem Bruder Van, Filme zu produzieren. Auf diesem Weg tasteten sich die beiden in die Kunstszene der Stadt vor, bis sie im Jahr 2008 einen Vertrag bei HBO landeten und ihre eigene Sendung bekamen: Die Neistat Brothers waren geboren.

Junge und noch jüngere Abenteurer

Die Serie soll ein Flop geworden sein, die DVD ist heute kaum noch aufzutreiben und die Brüder gingen anschließend getrennte Wege. Aber dass es für Casey seitdem steil bergauf geht, ist fast noch untertrieben. Vor zwei Jahren wurde er von Nike beauftragt, einen Clip über das neue Fuelband zu drehen. Er verwendete sein Budget darauf, in zehn Tagen um die Welt zu reisen und landete mit der Dokumentation dieses Streiches seinen bislang größten Erfolg. Es folgte eine mehrteilige Arbeit für Mercedes, eine selbstorganisierte Hilfsaktion auf den Philippinen und eine Show über das Suncance-Filmfestival.

All das wirkt steril, unpersönlich, könnte auch aus dem Portfolio einer großen Werbeagentur entnommen sein. Aber das ist auch nur die eine Seite Caseys kreativen Schaffens. Unter seinen Videos findet man nämlich auch eine Art Rezeptur seines Thanksgiving-Dinners, eine Liebeserklärung an seine Freundin Candice und viele, viele Filme, in denen sein Sohn Owen mitspielt. Über genau diese berührende Vater-Sohn-Beziehung ist am Wochenende ein Artikel im T Magazine erschienen. Jeden Sommer unternehmen die beiden eine große Reise: Die Anden, Vietnam, Ostafrika. Abenteuer, die einen Jungen wie Owen für den Rest seines Lebens prägen werden; Erlebnisse, die familiäre Bindungen festigen wie nichts anderes.

Emmyverdächtig

2011 flogen die beiden nach Cusco, kletterten über Berge und besuchten die versunkene Inka-Stadt Machu Picchu. Die damals entstandenen Aufnahmen hat Casey lange aufbewahrt, um sie nun zu einem ergreifenden 20-Minüter zusammenzuschneiden. Er macht Owen auf einen Schlag zum coolsten Teenager der Ostküste, und doch frage ich mich: Schämt auch er sich manchmal wenigstens ein klitzekleines Bisschen für seinen Vater? Oder stört ihn nicht zumindest ein wenig, dass ihn der Film auf ewig zum Dreizehnjährigen macht? Wie auch immer die Antworten ausfallen mögen: Es gibt keinen Anlass zu bezweifeln, dass Caseys bisher längstes YouTube-Video den Emmy, für den er schon einmal nominiert würde, diesmal endgültig abräumen wird.

Es ist einfach, Casey dafür zu verurteilen, dass er seine sorgfältig komponierte DIY-Welt bereitwillig an zahlungskräftige Lifestyle-Marken verkauft. Aber damit wird man seinem offenen, ehrlichen und mutigen Charakter nicht gerecht. Im Zeitalter der technologischen Revolution lässt sich der Großteil der Menschheit auf eine stumme Konsumentenrolle reduzieren. Casey dagegen fordert dazu auf, die im Überfluss verfügbaren Produktionswerkzeuge selbst in die Hand zu nehmen und damit unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Als Inspiration ist sein unbändiger Lebensmut mehr als ausreichend. So jemanden wünscht man sich gerne zum Vater. Oder großen Bruder.

Florian Lehmuth
12. März 2014
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