Proudly made on earth

The Act of Killing: Die Alltäglichkeit des Bösen

The Act of Killing

© Joshua Oppenheimer

Sechs Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs widmet sich Sigmund Freud dem wahrscheinlich größten Tiefpunkt, den die Menschheit bis dahin erlebt hat. In Zeitgemäßes über Tod und Krieg versucht er zu erklären, wie die moralischen Standards einer ganzen Nation auf einen Schlag ausgelöscht werden können; wie aus normalen Menschen Mörder werden. Er schlägt pazifistische Töne an, schreibt: »Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die—Enttäuschung. […] Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet. […] Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben.«

Wirklich revolutionär an Freuds Aufsatz ist aber nicht, dass er die Gräueltaten der Schützengräben verurteilt, sondern gleichfalls das Böse zu einem natürlichen Teil der menschlichen Psyche erklärt. Die angeborenen egoistischen Triebe könnten durch Sozialisation nur unterdrückt, nicht aber ausradiert werden. In der Freudschen Welt steckt also schon in jedem Mensch ein Monster, bevor es unter bestimmten Umständen ans Licht kommt. So schnell, wie man sich zu ihnen verleiten ließ, und so problemlos wie ein schlechter Traum könnten die eigenen Untaten aber auch wieder vergessen werden. »Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämpfer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weib und Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die er im Nahekampf oder durch die fernwirkende Waffe getötet hat.«

Ein ehrlicher Mörder

Ob ich selbst an diese etwas zu plastische Deutung glauben möchte, ist mir nicht klar. War mir zumindest nicht klar, bis ich The Act of Killing sah. Für seinen oscarnominierten Dokumentarfilm ist Joshua Oppenheimer nach Indonesien gereist. Als dort am 30. September 1965 ein Putschversuch stattfand, den man zu Unrecht der kommunistischen Partei anlastete, wurde an ihren Anhänger und an der chinesischstämmigen Bevölkerung ein Massaker verübt. Die Leitung des Massenmords hatte der General und spätere Diktator Suharto inne, aber auch viele paramilitärische Gruppierungen waren beteiligt. Unter ihnen die Premans, indonesische Gangster, die für Geld alle Arten von unliebsamen Aufgaben übernehmen. Bis heute erpressen sie Schutzgeld und sorgen im Auftrag der Mächtigen für Angst und Schrecken.

Anwar Congo ist ein Preman und er macht keinen Hehl daraus, dass er selbst in nicht unerheblichem Umfang an dem Massaker beteiligt war. Durch den indonesischen Staat muss er für seine Offenheit keine Repressalien fürchten, denn die Schlächter von damals bekleiden noch immer sehr machtvolle Ämter. Wie bringt man also einen solchen Mann, der sich keiner Schuld bewusst ist und bereitwillig mit seinen Taten prahlt dazu, eine neue Perspektive auf die eigene Vergangenheit einzunehmen? Oppenheimer schlägt dem Gangster vor, seine Morde filmisch nachzustellen. Und Anwar willigt nicht nur ein, sondern schlägt bei den nachfolgenden Dreharbeiten auch noch einen so selbstkritischen Weg ein, wie man ihn von einem Preman nicht erwartet hätte.

Vereinbare Widersprüche

Die Dokumentation ist nicht darauf ausgelegt, einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige Verfasstheit der indonesischen Gesellschaft zu geben. Genausowenig werden Menschen vorschnell für ihre Vergangenheit verurteilt, denn es gibt kein Stück Land, das im Lauf der Geschichte nicht mit Blut besudelt wurde und auch Vergangenheitsbewältigung wird weltweit mit höchst unterschiedlichem Eifer vorangetrieben. Stattdessen gelingt es The Act of Killing, einen faszinierenden wie verstörenden Einblick in die Abläufe der menschlichen Psyche zu liefern. Dass dazu auch Widersprüche gehören und man immer wieder einen Funken Reue in Anwars Augen aufflackern zu sehen meint, während er im nächsten Augenblick mit größter Gelassenheit von seinen Tötungsmethoden spricht, macht die Angelegenheit nur realistischer.

Anwar erzählt davon, wie ihn die Geister der Vergangenheit regelmäßig im Schlaf einholen. Er stellt Szenen nach, in denen bizarre Gestalten mit geschminkten Gesichtern und abstehenden Haaren höhnisch über ihn lachen. Der gleiche Anwar inszeniert aber auch eine surreale Musicalsequenz, in der ihm ein toter Kommunist eine Medaille umhängt und sagt: »Danke, dass du mich ins Paradies geleitet hast.« Es ist eben gar nicht so schwer, kognitive Dissonanzen zu reduzieren und sich eine mentale Nische einzurichten, in der es sich ungestört leben lässt. Man muss nur das eigene Weltbild entlang der persönlichen Vergangenheit ausrichten. Ganz nach Freud wird so aus dem Monster der harmloseste Familienmensch, der seine Enkeln beim Spielen mit Entenküken zur Behutsamkeit mahnt.

Wunden wieder aufreißen

Natürlich ist eine gewisse Läuterung vorprogrammiert. Oppenheimers Ziel ist es schließlich, alte Wunden noch einmal aufzureißen, damit sie anschließend besser verheilen können. Es zeigt sich aber auch, wie unglaublich schwierig es ist, verfeindete Bevölkerungsgruppen nach Jahrzehnten des Konfliktes miteinander auszusöhnen. Einer der Schauspieler des Films im Film, der einen Kommunisten mimt, erzählt erst nach mehreren Drehtagen von seinem persönlichen Schicksal. Wie sein chinesischer Stiefvater damals abgeholt und ermordet wurde; wie er ihn kaum älter als zehn alleine mit seinem Großvater begraben musste, weil ihnen sonst niemand zu helfen traute. Wie er anschließend mit seiner Familie im Internierungslager landete und nicht zur Schule gehen konnte. Anwar findet ganz trocken: Es gebe ja so viele ähnliche Geschichten und diese sei so kompliziert, dass man sie nicht auf der Leinwand zeigen könne.

Hier, in der Mitte der Dokumentation, findet sich dann auch ihre Schlüsselszene. Es wird gerade ein Verhör gedreht, bei dem die Preman einem wimmernden Kommunisten das Recht verweigern, ein letztes Mal mit seinen Angehörigen zu sprechen. Adi, ein Freund Anwars, nimmt diesen beiseite und warnt ihn, der Film würde die Gangster in keinem guten Licht zeigen. Bisher seien es stets die Kommunisten gewesen, die verteufelt wurden. »Die Geschichte unserer Nation müsste neu bewertet werden.« Anwar stimmt zu: »Wir sind die Grausamen.« Was wie ein Schuldeingeständnis aussieht, ist in Wirklichkeit nur die Erkenntnis, dass Grausames und Heldenhaftes vor der Kamera gut zusammengehen. Und was ist denn etwa heroisch an einem James Bond, der im Namen der Freiheit ja auch reihenweise Kommunisten umbringt? Spätestens dann wird mir klar, dass jede Nation diese dunklen Flecken in ihrer Geschichte hat. Nur die Deutungshoheit, die liegt immer bei den Siegern.

The Act of Killing ist noch bis kommenden Dienstag bei Arte+7 zu sehen. Die freundliche Empfehlung stammt von René.

Florian Lehmuth
21. März 2014
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