Proudly made on earth

Ich war davor noch nie in Kopenhagen

Kopenhagen 01

Wir verlassen Berlin an einem Montagabend um elf. Als ich am ZOB im Westend ankomme, wartet der Bus schon auf mich. Business Class steht außen, drinnen sitzen Passagiere aus Tschechien und gedulden sich auf die Weiterfahrt. Ich hoffe, dass mit dem Versprechen von ein wenig Luxus nicht übertrieben wurde und ich tatsächlich etwas Schlaf abbekommen. Aber daraus wird nicht viel.

Bis Fehmarn bin ich damit beschäftigt, eine Art Kissen aus meinem Schal zu rollen und immer dann aus dem Halbschlaf hochzuschrecken, wenn das Stück Stoff verrutscht und mein Gesicht die kalte Fensterscheibe berührt. Danach heißt es erst einmal unfreiwilligen Stillstand, während wir auf die Fähre warten. Rechts von uns LKWs, links ein riesiger Bildschirm, auf dem dänische Nachrichten laufen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es hier öfter einmal etwas länger dauern kann.

Gefühl von Fremdartigkeit

Dann fahren wir in den Bauch des Schiffes, legen ab, schauen auf das pechschwarze Meer. Die Fähre ist riesig und fast leer. Nach einer halben Stunde erreichen wir die andere Seite; es geht noch einmal auf die Autobahn. Gerade als ich eine einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden und mich an die Wärme des Busses gewöhnt habe, kommen wir an. Die Luft ist eisig, der Himmel dunkelblau und die Stadt noch nicht aus ihrem Schlummer erwacht. Ich staune darüber, wie wenig es braucht, um ein Gefühl von Fremdartigkeit in mir zu erwecken. Rötliche Ziegelbauten statt grauen Betonfassaden, die Straßen ein wenig schmaler als in Berlin und Ampeln, die die Wartezeit herunterzählen. Das also ist Kopenhagen.

Als ich den Rathausplatz überquere, wärmen sich Scharen von Tauben mit eingezogenen Köpfen an den Dampfschwaden, die aus Kanaldeckeln aufsteigen. Ich habe kein festes Ziel; bin viel zu früh dran, um ins Hostel einzuchecken. Während ich auf der Suche nach dem Meer über die Langebro laufe, geht die Sonne auf. Mittlerweile ist die Rush Hour angebrochen, doch statt Autos sehe ich vor allem Unmengen von Fahrrädern. Gut gelaunt blicken die Dänen ihrem Arbeitstag entgegen, stoisch trotzen sie Kälte und Wind. Unten auf dem Kanal leuchten die Eisschollen im rötlichen Licht der ersten Sonnenstrahlen.

Altehrwürdiger Charme

Die Temperaturen versetzen mich in eine Art Schwebezustand. Ich bin gezwungen, mich unaufhörlich zu bewegen, um nicht zu frieren. Dafür bleibt mein Kopf trotz des wenigen Schlafes erstaunlich wach. Irgendwann am Nachmittag ist dann mein Zimmer bezugsfertig und in der Wärme des Hostels überkommt mich schlagartig meine Müdigkeit. Ich schlafe bis zum nächsten Morgen.

Kopenhagen hat den altehrwürdigen Charme einer Stadt, die von den Wirren des Zweiten Weltkriegs größtenteils verschont wurde. Es gibt die frisch renovierten Häuser der eingesessenen Kaufmannsfamilien, die kleinen gepflasterten Gassen und im Gegensatz zu Berlin sogar ein richtiges Zentrum. Alles ist aufgeräumt, sauber, elegant – aber bis zu einem Grad, der steril auf mich wirkt, unnahbar. Brötchen werden in Bäckereien verkauft, die auch Boutiquen sein könnten. Wenn sich das Leben auf solch hohem Niveau abspielt, hat die rohe Ehrlichkeit des Alltäglichen keinen Platz mehr.

Neue Gesellschaftsordnung

Trotzdem finde ich Gefallen an dieser stolzen kleinen Stadt. Die Monarchie ist überall präsent, aber sie gibt sich volksnah und bescheiden. Viele Schlösser der königlichen Familie wurden mittlerweile öffentlichen Zwecken zugewiesen und beherbergen das Parlament, Museen, Galerien. Das britische Modell scheint auch hier zu funktionieren: Als Staatsoberhaupt erfüllt die Königin nur eine symbolische Funktion, aber für das Publikum von, sagen wir, Adel aktuell macht sie eben viel mehr her als der durchschnittliche Bundespräsident. Auch die Bärenfellmützen vor dem Schloss Amalienborg habe ich schon einmal anderswo gesehen.

Einer der Höhepunkte meines Ausflugs ist sicherlich der Besuch in der Freistadt Christiana. Die fortlaufende Diskussion um den politischen Status der Siedlung habe ich am Rande mitbekommen, doch genau weiß ich nicht, was mich erwarten wird. Im Jahr 1971 kam eine Gruppe von Aktivisten hier an, fand ein brachliegendes Militärgelände vor und erklärte es zum Experimentierfeld für den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung. Die Jahre vergingen, aber die Besetzer blieben und richteten sich an ihrem neuen Zufluchtsort häuslich ein. Christiana, Paradies der Ausgestoßenen, Heimat der kreativen Querdenker.

Utopia sieht anders aus

Obwohl von staatlicher Seite schon oft mit der Räumung des Areals gedroht wurde, ist die Freistadt mittlerweile ein fester Bestandteil Kopenhagens. Als eine der größten Touristenattraktionen zieht sie mit ihren knapp tausend Einwohnern jährlich über eine Million Besucher an. Von den Behörden wird sie aktiv als Sehenswürdigkeit beworben. Es ist die offene Einstellung der Bewohner gegenüber den rucksacktragenden Besuchergruppen, die mich als Erstes überrascht. Gegen eine schnelle Einkommensquelle hat anscheinend niemand etwas einzuwenden, auch wenn dann schon einmal Menschen mit Kameras im eigenen Vorgarten stehen.

Posiert wird natürlich auch neben der Tafel, die auf den Green Light District hinweist. Die Zuhausegebliebenen sollen sehen, an welch verruchten Ort es einen da verschlagen hat. Menschen mit dicken Tüten zwischen den Lippen, und gefüllt sind sie bestimmt nicht nur mit Tabak! Ebenfalls beliebt ist der Torbogen über dem Ausgang der Freistadt, auf dem warnend erklärt wird: »You are now entering the EU.« Wie ein Utopia sieht mir Christiana an diesem trüben Februarmorgen nicht aus. Die unbefestigten Wege sind matschig und verlassen, am Ufer des Stadsgraven ragt eine leere Bierkiste zur Hälfte aus dem Eis.

Ein gutes Leben

Andererseits verdient selbstverständlich der alleinige Wille, dem Status quo etwas entgegenzusetzen, eine gehörige Portion Bewunderung. Die Häuser in Christiana sind so bunt wie die politischen Ansichten und man sieht ihnen an, dass als Architekt der angeborene Einfallsgeist von Amateuren engagiert wurde. Die Einwohner sind älter geworden und Lösungen für die drängenderen Probleme unserer Zeit sucht man vielleicht besser woanders. Aber ich bin mir sicher, dass etwa die Inhaberin eines Künstlerladens in der Freistadt mit Recht von sich behaupten kann, ein gutes Leben zu führen.

Für mein eigenes Leben stellt der Besuch in Kopenhagen keinen Wendepunkt dar. Ich bin es gewohnt, unterwegs Bequemlichkeit gegen Erlebnisse einzutauschen, aber diesmal geht der Handel nicht ganz auf. Die Stadt ist klein und der Spielraum für glückliche Überraschungen gering. Etwas gelernt habe ich trotzdem, nämlich über die große Sinnkrise Holden Caulfields. »Where do the ducks go when the lagoon gets all icy and frozen over?« Die Antwort: Sie stehen da einfach nur herum. Als wären sie festgefroren. Und irgendwann kommt dann wieder der Sommer.

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Florian Lehmuth
17. März 2014
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