Proudly made on earth

Sammlung

Collection

© Lucie Camp

Der Töpfer sah sich weiter um. »Nun brauche ich noch ein zweites Bett«, erklärte er Justus. »Für einen Jungen, etwa so alt wie du. Was würdest du nehmen, Justus, wenn du ein neues Bett zu kaufen hättest?«

Für Justus war das schnell abgemacht. Er zog ein weißes Bett aus Holz mit angebautem Bücherfach hervor. »Wenn der Junge gern im Bett liest, wäre das hier für ihn ideal«, sagte er. »Das Holz ist nicht gerade erste Qualität, aber Patrick hat es abgeschmirgelt und frisch gestrichen. Ich finde, es sieht wie neu aus, wenn nicht noch besser.«

Der Potter war sehr angetan. »Ja, wunderbar! Und wenn der Junge im Bett nicht liest, kann er immerhin in dem Bücherfach seine Sammlung unterbringen.«

»Sammlung?« fragte Justus zurück.

»Ja, die hat er doch bestimmt«, meinte der Potter. »Alle Jungen sammeln doch irgendwas, nicht? Muscheln oder Briefmarken oder Steine oder Kronenkorken oder so was?«

Justus wollte schon erwidern, daß er selbst keine Sammlung besaß. Dann fiel ihm die Zentrale ein, der alte Campinganhänger, der hinter einem kunstvoll aufgebauten Stapel von Schrott und Trödelkram hinten auf dem Hof stand. O ja, Justus Jonas hatte auch eine Sammlung. Eine Sammlung von Fällen, aufgeklärt durch die drei ???. All die Unterlagen befanden sich im Anhänger, säuberlich in Schnellheftern archiviert.

»Ja, Mr. Potter, sicher sammeln alle Jungen irgendwas«, sagte er.

Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass weniger die Geschichten der drei Fragezeichen für meine grenzenlose Faszination verantwortlich waren als vielmehr das Lebensgefühl der drei kalifornischen Jungen. Der Eindruck von Freiheit, Selbstständigkeit, die Umbekümmertheit, die Justus, Peter und Bob vermittelten. Surfen an der schönen Küste rund um Los Angeles, spontane Wochenendtrips mit den eigenen Autos, ein eigenes, voll ausgerüstetes Büro. Wahrscheinlich vermisse ich mehr noch meine eigene kindliche Unschuld als die der Protagonisten. So erinnere ich mich auch kaum noch an die Sammlung von Fällen, aufgeklärt durch die drei ???, sondern an ein paar lebensechte Szenen vor dem inneren Auge: Die Sonne, wie sie erbarmungslos vom Himmel brennt und die ganze Welt in ausgewaschene Farben taucht. Der breite Pacific Coast Highway, der sich von Santa Monica nach Nordwesten schlängelt und das ungestüme, kühle Meer von der bewaldeten Steilküste trennt. Viele identische Bungalows bilden kleine Städtchen mit geometrischen Formen und verkörpern den amerikanischen Mittelstand; protzige Villen zeugen von Wohlstand und westlichem Größenwahn. Sehnsüchtig wünsche ich mir dieses Lebensgefühl zurück, das sich dereinst schon beim bloßen Aufschlagen eines Buches einstellte. Bestimmte Passagen aber habe ich bis heute nicht vergessen. Wenn ich mich dann erinnere, stelle ich oft erstaunt fest, wie viel Wahrheit ich unbewusst durch solche Kinderbücher aufgenommen habe.

Ich bin ein fanatischer Sammler. Natürlich hat es das Internet deutlich erleichtert, immaterielle Gegenstände auf Knopfdruck irgendwo abzulegen. Es hagelt allerorts kleine Sternchen und Herzen, man kann favorisieren und seinen Gefallen bekunden. Auch wenn sich mir die Bedeutung des fünfzackigen Sterns, der an jedem halbwegs interessanten Produkt prangt, noch nicht erschlossen hat – ich benutze ihn mit Vergnügen. Auf Twitter wird damit jede Kurznachricht markiert, die später noch von Bedeutung sein könnte. Um sie laut zu rezitieren und bestenfalls ein paar Lacher zu ernten. Weil der beigefügte Link irgendwann nützlich sein könnte. Oder aus dem Grund, dass ich mit etwas Verspätung noch auf eine spannende Aussage antworten möchte. Bei Flickr verwandelt sich der Stern auf Knopfdruck zwar in markantes Lila, wird aber genauso exzessiv eingesetzt. Ästhetisch ansprechend? Thematisch interessant? Egal aus welchem Grund, Fotos aller Art wandern nach und nach in die Favoriten. Bei Google Mail sollte selbiges Verfahren eigentlich dazu dienen, Konversationen zu markieren, mit denen man sich im Anschluss noch beschäftigen wollte. Ob “starred” oder nicht, irgendwie versauern alle Nachrichten letztendlich doch in den Tiefen des Archivs und tümmeln sich dort mit allen anderen elektronischen Briefen, die gesammelt anstatt gelöscht werden.

Videos landen bei YouTube oder Vimeo im Verzeichnis meiner liebsten Kurzfilme, auch wenn ich sie vielleicht nur dort abgelegt habe, um sie später noch einmal vorführen zu können. Für flüchtige oder tiefgreifende Ohrwürmer bieten die Hype Machine und Grooveshark ihre kleinen, roten Herzchen an, damit auch sicher kein einziger Ton verlorengeht.

Facebook macht sich gar nicht erst die Mühe, zu verschleiern, dass es ihm nur um rigoroses Anhäufen von Datenhalden geht, egal ob aus User- oder Betreibersicht. Angefangen bei den “Freunden”, den flüchtigen Bekanntschaften, derer je mehr, desto besser. Die Hälfte aller Statusupdates, Fotos und Videos erhält sowieso das Prädikat “Gefällt mir”, ob nun ehrlich gemeint oder nicht. Das eigene Profil ist eine einzige wilde Agglomeration verschiedener Kulturinhalte und Interessen, nur mit dem einen Ziel, Persönlichkeit vorzutäuschen. In der Rubrik Musik habe ich die Grenze von hundertfünfzig Künstlern, mit denen ich mich identifizieren kann, schon länger hinter mir gelassen. Bücher und Filme nehmen stetig an Anzahl zu. Aber ist mehr wirklich mehr?

Nur weil das Sammeln durch das Netz so stark vereinfacht wurde, bedeutet das nicht, dass ich im echten Leben darauf verzichten würde. Hinter der Kamera bin ich darauf versessen, den Moment einzufangen und abzuspeichern. Die Welt existiert nur noch durch den Sucher. Ich kann nicht genießen, weil ich Angst habe, zu verlieren, irgendetwas zu verpassen. Manchmal handle ich nur, um danach die Geschichte davon niederzuschreiben. Manche Augenblicke sind schon halb im Archiv, bevor sie komplett durchlebt worden sind.

Längst habe ich die Frage nach dem Sinn der ganzen Aktion übersprungen, ausgeblendet, verdrängt. Woher kommt diese zwanghafte Manie, um mich herum beinahe willkürlich und mit geringer Systematik Dinge anzuhäufen? Wieso habe ich solch panische Angst davor, loszulassen und zu vergessen? Aus Furcht, etwas verpassen zu können, verpasse ich doch in Wirklichkeit so viel, weil ich mich nie richtig auf eine Sache einlasse. Am wichtigsten jedoch: Wo bleibt meine persönliche Identität, wenn ich mich immerzu mit fremden Werken schmücke?

Doch dann fällt mir wieder ein, dass ohne den bestehenden Kontext nichts Neues geschaffen werden kann. Kultur kann niemals eigenständig und losgelöst von der Umgebung sein. Vielleicht ist das zwanghafte Sammeln von kulturellen Schöpfungen, von Lebenszeit und Erinnerungen, also nur meine Art, inspiriert zu werden. Je mehr davon, desto besser. Auf diese Weise kommt am Ende vielleicht mehr Eigenleistung heraus. Oder das Ergebnis wird einfach besser. Wer weiß das schon.

Irgendwann werde ich dann vielleicht auch endlich loslassen können. Verpassen. Und vergessen.

Bevor ihr fragt: M. V. Carey – “Die drei ??? und die flammende Spur”, ISBN 3-440-04620-6
Florian Lehmuth
29. Juni 2011
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