Proudly made on earth

Imagination

Eine nervtötend langsame Internetverbindung hat überraschenderweise nicht nur negative Eigenschaften. Unter Umständen gewährt sie einem erstaunliche Einblicke: In den genauen Ladevorgang einer Website nämlich. Man erkennt, in welcher Reihenfolge die Elemente geladen werden, und kann daraus Erkenntnisse gewinnen, die dem Autor mit seiner 100-MBit-Leitung höchstwahrscheinlich für immer verborgen bleiben werden.

Google Maps teilt die Weltkarte in viele kleine Quadrate auf, was angesichts einer fast unendlich großen, zu zwischenspeichernden Fläche ziemlich sinnvoll ist. Ändert man den Bildausschnitt, springt ein Rechteck nach dem anderen zur richtigen Ansicht und erweitert stückweise den Horizont. Unfassbar toll, eine digitale Welt, die zu allem Überfluss auch noch draußen vor der Tür existiert, per Mausschwenk und Scrollrad nach den eigenen Vorstellungen in alle Richtungen zu vergrößern.

In letzter Zeit hat mein Lesepensum wieder enorm zugenommen. Damit meine ich nicht all die Blogs im Feedreader oder die täglichen Linkempfehlungen bei Twitter. Nein, ich nehme Papier in meine Hände, duftendes, knisterndes Papier. Bücher. Hurra, ich lese wieder! Fast kommt es mir so vor, als sei meine Fantasie in den letzten Jahren mangels Übung enorm geschrumpft. Wo sind all die wunderbaren, künstlichen Welten in meinem Kopf, die ich einst so mühelos basierend auf wenigen Zeilen Druckerschwärze erschaffen konnte? Ich stürze mich noch einmal in die Literatur meiner Kindheit. Da, urplötzlich taucht ein Haus auf. Eine prunkvolle Villa mit Halle, Galerie, stattlicher Bibliothek und kleinem Türmchen. Langsam wachsen im Garten Bäume auf stattliche Größe heran, ringsum breitet sich satter, grüner Rasen aus. Efeu rankt sich an Mauern empor und erklimmt Hauswände. Ganze Wälder erheben sich aus dem Nichts. Eine schmale Straße schlängelt sich in die nächste Ortschaft, vorbei an Hecken und Alleen. Ganz in der Ferne leuchtet das strahlende Weiß des letzten Schnees in den Bergen. Nur, wer einmal selbst dort oben gestanden hat, weiß, dass auf der anderen Seite das Meer beginnt. Wie bei Google Maps verschiebt sich der Horizont schrittweise immer weiter nach hinten, das Gedankenkonstrukt breitet sich aus, die Imagination gewinnt zunehmend Boden im Kampf gegen die unendliche Leere.

Filme sind doch etwas für Anfänger.

Florian Lehmuth
30. Juni 2011
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