Proudly made on earth

Deutschland spricht mit den Falschen

Eine Reihe großer Glühbirnen bildet eine Lichterkette, die sich von der Fassade eines grauen Holzhauses hin zur Kamera erstreckt und in der Dämmerung für Beleuchtung sorgt.

Unter dieser Lichterkette könnte sich der feste Boden der Demokratie befinden, wenn nur jemand Verantwortung für den Speiseplan übernehmen würde. Unsplash: David Pennington

Fast möchte ich mich für das folgende Bild entschuldigen. Das werde ich aber nicht, weil klare Worte selten so wichtig waren und immer dann hässlich sein müssen, wenn es um hässliche Dinge geht.

Ich stelle mir also vor, jetzt, wo es abends noch lange hell ist und die Luft lau, auf einer Gartenparty eingeladen zu sein. Allmählich hat sich der Rasen gefüllt; die Gastgeberin oder der Gastgeberin holt Luft für ein paar Begrüßungsworte. In diesem Moment kotzt jemand mit Anlauf quer über das Buffet.

Zunächst herrscht allgemeines Entsetzen. Da sich der Gast keiner Schuld bewusst sind, richten sich die Blicke bald auf die Veranstalterin, den Veranstalter. Wer vorsätzlich aufs Buffet kotzt, müsste doch mindestens umgehend rausgeworfen werden, davon gehen bis zu diesem Zeitpunkt alle aus.

Der denkwürdigste Teil des Abends beginnt aber erst, als nämlich die Gastgeberin, der Gastgeber in vielen beschönigenden Worten erklärt, warum das mit der Kotze doch gar nicht so schlimm sei. Das Essen sei deshalb noch lange nicht ruiniert, greift zu und lasst es euch schmecken!

Respekt für die essensfeindliche Haltung

Wie sich herausstellt, hat der randalierende Gast eine lange Geschichte ähnlicher Kulinarattacken vorzuweisen. Es wurde aber nie darüber nachgedacht, ihn deshalb nicht einzuladen oder auch nur um Beachtung des Speiseplans zu bitten. Nein, er wurde überhaupt nur wegen seiner essensfeindlichen Haltung eingeladen, um ein Angebot zu diversifizieren, das bislang völlig von der Tapas-Lasagne-Cupcake-Fraktion dominiert wurde.

Immer öfter fühle ich mich beim Zeitunglesen wie ein ungläubiger Teilnehmer dieser Gartenparty, wenn ich sehe, welche neuesten Scheußlichkeiten als Meinung fehlklassifiziert, ganz oben auf die Startseiten gehievt und schließlich so lange mit vermeintlicher Neutralität oder bunten Euphemismen geschmückt werden, bis der Ruch des Unsäglichen völlig verschwunden ist.

Seit einigen Tagen findet sich nun zwischen den Schlagzeilen auch der Aufruf, an einer Neuauflage der Aktion Deutschland spricht teilzunehmen. Die Idee: Zwei sich vorher Unbekannte mit “möglichst unterschiedlichen Ansichten” sollen zu einem politischen Streitgespräch zusammenkommen. Gerade wurde Zeit Online für dieses Projekt mit einem Grimme-Online-Award ausgezeichnet; die Jury spricht von “Journalismus […] im besten Sinne der Demokratie.” Kein Wunder, dass in diesem Jahr zehn weitere Medien mitmachen, darunter Spiegel Online, Süddeutsche.de, Tagesspiegel und Tagesschau.de. Es dürfte schwer sein, den Bannern beim Nachrichtenkonsum zu entkommen.

Lebhafte Debatten, Wettkampf der besten Argumente und ein Land, das sich am Ende versöhnlich in die Arme fällt. Eine Traumvorstellung, natürlich auch für mich. Aber vor allen Dingen das: ein Traum. Ich glaube nicht, dass es wirklich darum geht, den konstruktiven Dialog zu fördern, und noch weniger, dass das auf diese Weise funktionieren wird.

Eine Diskussion, die es nicht geben darf

Sieht man sich nämlich die Ja-Nein-Fragen an, mit denen Interessierte in möglichst unterschiedliche Lager aufgeteilt werden sollen, so liest man: “Sollte Deutschland seine Grenzen strikter kontrollieren? Können Muslime und Nicht-Muslime in Deutschland gut zusammen leben? Haben die #Metoo-Debatte und die Diskussion um sexuelle Belästigung etwas Positives bewirkt?”

Fragen, die sich von selbst beantworteten, wenn sie auf der Grundlage von Menschenrechten, Grundgesetz und Völkerrecht diskutiert würden. Dann müsste klar sein, dass man Menschen nicht ertrinken lassen darf, wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, ihnen zu helfen. Dass es ein universelles Menschenrecht auf Asyl gibt, das nicht eingeschränkt oder abgeschafft werden kann. Es gäbe keinen Grund, das Zusammenleben von Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen grundsätzlich zur Diskussion zu stellen, weil es diese Diskussion laut unserer Verfassung nicht geben darf. Wenn #Metoo nicht als reine Debatte um sexuelle Belästigung kleingeredet werden würde, sondern als Aufarbeitung struktureller Gewalt, die große Teile der Bevölkerung betrifft, ja, dann kann das in einem Rechtsstaat einzig und allein positiv sein.

Leider glaube ich, dass die Themenvorschläge von Deutschland spricht genau diejenigen anziehen und legitimieren, die sich nicht verpflichtet fühlen, sich an das Mindestmaß zivilisatorischen Anstands zu halten, das auf den Trümmern eines Weltkriegs erkämpft wurde. Weil das Spektakel am Ende eben mehr zählt als ein dröger Rentenreformvorschlag, in manchen Augen.

Menschenwürde hängt nicht vom Kontext ab

Nehmen wir also an, vor mir sitzt ein halber Höcke, eine kleine von Storch, ein Möchtegern-Sarrazin. Soll ich dann sagen: Erläutern Sie doch bitte genau, warum Sie finden, dass ein Mensch mit der falschen Hautfarbe den Tod verdient? Erklären Sie mir in aller Ausführlichkeit, warum Sie denken, dass Grundrechte nicht gelten, wenn ein Mensch die falsche Religion hat? Erzählen sie mir in allen Details, warum Sie einem Menschen mit dem falschen Geschlecht, der falschen Sexualität kein würdevolles Leben zugestehen?

Hui, ganz schön kontrovers. Reden Sie weiter.

Es kann keine Gesprächsgrundlage existieren, wo Menschen in richtig und falsch unterteilt werden, wo Menschenwürde vom Kontext abhängig gemacht wird. In einem demokratischen Gespräch kann nicht die Abschaffung der Demokratie verhandelt werden. Genauso wenig können die Grundwerte ignoriert werden, auf denen und mit denen unsere Demokratie gegründet und begründet ist.

Die eigentliche Frage müsste lauten, warum Deutschland über Fragen sprechen sollte, die exakt der Rhetorik des Rechtspopulismus entsprechen. Die Antwort findet sich in einem Making-of zur letztjährigen Aktion, wo bedauert wird, dass die Meinungen unter anderem darüber, ob Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen habe, “ziemlich homogen” ausgefallen seien.

Künstliche Polarisierung

Damit sind die Veranstalter*innen dem Urtrick der Rechten aufgesessen, nämlich der Behauptung, dass es ein vergessenes Deutschland gebe, das endlich angehört werden müsse. Weil die Daten keine nennenswerte Spaltung aufzeigen, werden die fast gleichen Fragen in diesem Jahr weiter zugespitzt. Zeit Online und Co bemühen sich also, die Polarisierung erst zu erzeugen, die anschließend wegdiskutiert werden soll. Dabei ließe sich sehr leicht eine Basis für interessante Gespräche schaffen. Man müsste nur andere Themen wählen.

Die Rechte lebt nämlich nicht von der Debatte, sondern von der Polarisierung. Sie ist nicht daran interessiert, Argumente auszutauschen, sondern die Gesprächsgrundlage zu verschieben. Wer dieses Spiel mitspielt, hat schon verloren, bevor die ersten Worte fallen. Die Menschenwürde ist kein universelles Gut mehr, sobald sie zur Diskussion freigegeben wird.

Tragisch ist das vor allem, weil es gerade für die Medien keinerlei Grund gibt, sich auf die abschüssige Bahn der moralischen Relativierung zu begeben. Nur, weil es Menschen gibt, die Sekten angehören, ist der Rest der Gesellschaft nicht automatisch Teil einer großen Anti-Sekte und verpflichtet, einen Religionsfrieden auszuhandeln.

Im Gegenteil sind die Medien in besonderem Maße dem Grundgesetz verpflichtet, allem voran der Menschlichkeit. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich Menschlichkeit fördern lässt, wenn statt anonymer Massen über Menschen mit Persönlichkeiten und Geschichten berichtet wird. Demokratie lässt sich stärken, wenn über echte Probleme diskutiert wird, Meinungen abgewogen und Lösungen entwickelt, die Menschen in ihrem Alltag weiterhelfen.

Das vergessene Land

Deutschland soll sprechen, unbedingt. Aber dazu muss dann auch das Deutschland gehören, das in den meisten Debatten tatsächlich vergessen wird. Diejenigen, denen eine rassistische Gesellschaft so oft vermittelt, dass sie nicht dazugehörten. Diejenigen, die das Debattieren in einem kaputten Schulsystem nie gelernt haben. Diejenigen, denen neben Job und Kinderbetreuung keine Zeit für ein unterhaltsames Streitgespräch bleibt. Diejenigen, die das Formular nicht ausfüllen können, weil sie nicht mit dem Internet aufgewachsen sind. Diejenigen, die keine Adresse angeben können, weil sie seit Monaten auf Wohnungssuche sind.

Spannende Gesprächsthemen, da bin ich mir sicher, würden ganz von selbst aufkommen.

Natürlich kann auf einem Buffet auch ein missglückter Kuchen oder ein gewagter Nudelsalat stehen. Vielleicht ergibt sich dadurch sogar eine neue Rezeptidee. Nur dass es sich um Essen handelt, davon sollte man ausgehen dürfen.

Florian Lehmuth
27. Juli 2018
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