Die Insel, die auf mich gewartet hat: Island im März (1/2)

Ich weiß nicht, warum die perfekte Welt eine Insel sein muss. Ich weiß nur, dass ich nicht als einziger so fühle.
Thomas Morus legte sich nie fest, ob er sein Utopia als glücklichsten der Orte schuf oder doch den Ort, den es nicht geben kann. Andererseits war es ihm so wichtig, dass es jenseits des Festlands liegen sollte, dass er die Bevölkerung ihre Insel mühsam aus dem Fels einer einstigen Halbinsel hauen ließ.
Das könnte zweierlei bedeuten. Es könnte bedeuten, dass was zu gut für diese Welt ist, außerhalb von ihr existieren muss, nicht nur weil es kontrastiert, abgehoben, mystifiziert werden muss, sondern mehr noch aktiv beschützt vor einer möglicherweise vernichtenden äußeren Kraft. Es könnte auch bedeuten, dass was wie die vollkommene Schöpfung eines höheren Wesens wirkt, in Wirklichkeit das Werk vieler Hände ist, die Schaufel für Schaufel einer geteilten Zukunftsvorstellung entgegenbewegen. Das Paradies ist kein Ursprung, sondern ein Ziel, das mit Vorstellungsvermögen und harter Arbeit erreicht werden kann.
Nehmen wir an, dass beide Auslegungen gestützt werden können. Dann verkörpert die perfekte Insel gleichermaßen die höchste Errungenschaft der Menschheit und ihren unweigerlichen Niedergang. Mit jedem Fortschritt in Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Freiheit wächst die Distanz zum Festland. Ein Neuankömmling mag herzlich empfangen und sogar in die Gemeinschaft integriert werden, aber nur, nachdem sie ihr bisheriges Leben zurückgelassen hat. Die utopische Gesellschaft kann niemals wachsen, sie kann nie herausgefordert werden, sie kann nie etwas anderem dienen als sich selbst. Wie lange wird es wohl dauern, bis jemand aus zeitweiligem Missmut gegenüber dem vollendeten Lauf der Dinge anfängt, die Insel selbst in kleinere Stücke zu zerteilen?
Ich bin begeistert, nach Island reisen zu dürfen. Da sind natürlich die Fotos. Fotos, die immer häufiger auf meinen Bildschirmen auftauchen. Endlich kann ich selbst die Lavafelder bewundern, die heißen Quellen und Wasserfälle und die endlose Tundra, die im arktischen Sonnenschein glänzt.
Dann ist da auch die Faszination für ein Land, das so oft Schlagzeilen macht, die nicht etwa von Krieg, Korruption oder Ungerechtigkeit sprechen, sondern von einer Gesellschaft, die so friedlich und fair ist, dass sie beinahe komisch aussieht neben den weiten Teilen der Welt, die im Schatten daliegen.
Das einzige Problem ist, dass meine Gefährtin und ich keine Ahnung haben, was wir vor Ort erwarten sollen. Werden wir knietief im Schnee herumstapfen? Keine unwahrscheinliche Aussicht Anfang März. Wird uns die eisige Luft auch noch unter fünf Kleidungsschichten zum Zittern bringen? Wir informieren uns über die Temperaturen, vergleichen sie mit dem Berliner Wetter und obwohl wir feststellen, dass der Unterschied nicht allzu groß ausfällt, packen wir vorsichtshalber ein paar Pullis und Jacken mehr ein. Werden wir geschockt auf die Preisschilder eines der teuersten Reiseziele der Welt blicken? Wir füllen einen ganzen Koffer mit Reis, Nudeln und Kidneybohnen-Dosen. Öl und Gewürze kommen in kleine Kosmetikgefäße.
Es lässt sich leicht vergessen, wie abgelegen diese Insel wirklich ist. Nachdem wir stundenlang über den Atlantik geflogen sind, sehen wir sie zum ersten Mal. Meine Erwartungen werden nicht enttäuscht: Eis und Schnee, so weit das Auge blickt. Ich versuche, Straßen zu erkennen oder zumindest so etwas wie eine Siedlung, vergebens. Ich schaue auf ein unbeschriebenes Blatt Papier, das in einem grenzenlosen Ozean schwimmt, in eine unglaublich feingliedrige Form geschnitten, die wie ein Fraktal wirkt, aber keine Logik erkennen lässt. Erst, als wir den Landeanflug auf die südliche Halbinsel beginnen, verschwindet das Weiß allmählich und enthüllt die Kraft, die darunter im Vulkangestein schlummert.
Die Grenze nach Island zu überqueren bedeutet, durch eine offene Tür zu gehen. Wir sind nach wie vor in Europa und ich bin so privilegiert, einen europäischen Pass zu besitzen. Mich beschleicht das unerwartete Gefühl, dass all das hier von unsichtbaren Händen für uns angerichtet wurde: Die Wasserflasche im Regal des Ladens, der mehr wie ein Design-Museum wirkt; der Leihwagen, der mit vollem Tank auf uns wartet; die Funkmasten, die bereitwillig und ohne Zusatzkosten den Kontakt zu unseren Telefonen aufnehmen.
Es ist nicht so, dass ich dieses Gefühl noch nicht kenne. Ich bin mit offenen Armen willkommen geheißen worden, als ich dachte, so einen Empfang nicht verdient zu haben, und stellte dann fest, dass wir stets jede und jeden so behandeln sollten. Neu ist, dass dieses Mal niemand da ist, um uns willkommen zu heißen. Da ist nur die arktische Sonne, die auf die sorgsamste Art und Weise auf uns niederscheint. Als ob diese Insel, die in ein Gemälde verwandelt wurde, nicht zu stark angestrahlt werden dürfte, um ihre Farben zu bewahren, gleichzeitig aber nicht zu schwach, um sie nie weniger als verzaubernd aussehen zu lassen.
Nach Einbruch der Dunkelheit laufen wir durch Reykjavík und zeigen uns gegenseitig die Häuser, in denen wir gerne leben würden. Am nächsten Tag befinden wir uns in einem Schwimmbad mit Freiluftbecken. Die Luft ist so kalt, dass wir vom beheizten Innenbereich zum beheizten Pool rennen, und das Wasser ist so warm und entspannend, dass wir die Welt und ihre Sorgen kurzzeitig vergessen. Am eindrücklichsten an diesem Erlebnis ist, dass wir keine Tourist*innen sind, dass die Menschen um uns herum Englisch sprechen wie wir, dass sie ebenfalls frei entscheiden können, ihren Donnerstagnachmittag mit einem Bad in der Wärme einer grenzenlos gütigen Natur zu verbringen.
Das goldene Licht folgt uns, als wir Richtung Norden fahren, unseren ersten Wasserfall entdecken und alle paar Minuten anhalten, um die Schönheit, die uns umgibt, zu verstehen versuchen, oder zumindest festzuhalten. Als die Sonne langsam verschwindet, bekommen wir davon wenig mit. Es tauchen ein paar Anzeichen auf, dass die Naturgewalten nicht unterschätzt werden sollten, aber es ist leicht, den beißenden Wind zu ignorieren, wenn man in einem Auto sitzt. Kurz darauf müssen wir uns gegen die Böen stemmen, um eine Gruppe Isländischer Pferde begrüßen zu können.
Endlich in unserer Unterkunft ist es in dem Zimmer, das uns für die Nacht Schutz bieten soll, kälter als erwartet. Wir drehen an der Heizung herum, haben aber keinen Erfolg. Als wir uns halb damit abgefunden haben, das Beste aus den paar Decken zu machen, die uns zur Verfügung stehen, zeigt uns unsere Gastgeberin, wie sich die Heizung doch noch aufdrehen lässt. Wir sind in Sicherheit, als wir die Schneeflocken beobachten, die sich rasch unter unserem Fenster aufhäufen.














Einen Ausblick darauf, wie es weitergeht, gibt es in der Werbepause, wo ich mich damit beschäftige, die Dimensionen der isländischen Einsamkeit räumlich greifbar zu machen.