Proudly made on earth

Ich war davor noch nie auf Büyükada (Istanbul 3/4)

Istanbul 37

Als ich am nächsten Tag vor die Tür trete, hat sich die Atmosphäre verändert. Es ist merklich kühler geworden und von die Sonne versteckt sich hinter einer dichten Wolkendecke, als ich die Galata-Brücke in Richtung Beyoğlu überquere. Das soll sich an diesem Tag auch nicht mehr ändern. Ich beschließe trotzdem, mich noch einmal auf die Prinzeninseln zu begeben. Mein gestriger Besuch hat mich schwer beeindruckt. Jede Stadt sollte über einen Zugang zum Meer verfügen, aber eine eigene Inselgruppe ist als Ruhepol für Wochenendausflügler die absolute Krönung. Diesmal heißt das Ziel Büyükada, das größte Eiland des Archipels.

Auf meinem Weg nach Kabataş komme ich an einem einsamen Jogger vorbei, der mit Aufwärmübungen im Park beschäftigt ist. Eine Gruppe von Müllleuten sitzt am Kai und blickt einmütig aufs Wasser. Ich bin etwas früher unterwegs als gestern und die Stadt wirkt noch ein wenig verschlafen. Der Hafen grenzt direkt an den Dolmabahçe-Palast, wo bis zur Ausrufung der Türkischen Republik durch Atatürk die Sultane residierten und über das Osmanische Reich regierten. Als wir ablegen, weht ein frischer Wind über den Bosporus und die Passagiere drängen in den Innenraum des alten Dampfers. Ich sichere mir erneut einen Platz auf dem Boden und vertreibe mir die Zeit mit dem Schreiben von Postkarten.

Als wir eine gute Stunde später anlegen, ist der Unterschied zu Heybeliada sofort offensichtlich. Büyükada ist ordentlicher, sauberer, schicker. Gleichzeitig ist sie aber auch größer als ihre Nachbarinsel, deshalb gibt es trotz der aufgeräumten Erscheinung mehr zu entdecken. Zum Beispiel den Eisenwarenladen in einer Nebenstraße, der zeigt, dass hier auch wirklich Menschen leben. Ansonsten ist das öffentliche Leben aber ganz auf Tourismus ausgerichtet: Entlang der Uferpromenade reihen sich Restaurants und Cafés aneinander; in Souvenirläden werden Blumenketten verkauft, die sich Mädchen jeden Alters ins Haar stecken.

Verbannt auf die Insel

Die Stadt besteht zum Großteil aus weiß getünchten Neubauten, die sich bisweilen mit Kuppeln und Verzierungen zu kleinen Schlössern herausgeputzt haben. Veranden und Balkone sollen an die Architektur der Osmanen erinnern. Es finden sich auch noch einige der alten Holzvillen, doch mit abblätternder Farbe, losen Fensterläden und zerbrochenen Scheiben geben sie ein trostloses Bild ab. Maklerschilder hängen über dem Eingang. Keinen wesentlich besseren Eindruck macht auch der rote Ziegelbau, in dem Leo Trotzki einige Jahre seines Exils verbrachte, nachdem er von Stalin aus der Sowjetunion verstoßen worden war. Doch der marxistische Vordenker war keineswegs der Erste, der hier eher unfreiwillig sein Dasein fristete.

In der Antike hatte das Archipel den Namen Demonesoi, griechisch für die Inseln des Volkes. In der byzantinischen Zeit wurde dann eine Reihe von Klöstern errichtet, die der Inselgruppe den Namen Papadonisia einbrachten, Inseln der Mönche. Allzu oft mussten diese Klöster als Ort der Verbannung für unerwünschte Thronfolger, gestürzte Herrscher und alle Arten von unerwünschten Personen herhalten. Auf diesem Weg gelangten die Prinzeninseln zu ihrer heutigen Bezeichnung. Während zu dieser Zeit noch Fischerleute die Mehrheit der Bevölkerung stellten, kamen mit der Etablierung einer festen Fährverbindung im neunzehnten Jahrhundert zunehmend auch wohlhabendere Familien auf den Inseln an. Die Einwohnerzahl stieg stark an und es wurden Hotels für Wochenendbesucher eröffnet.

Auf Büyükada herrscht deutlich mehr Verkehr als auf Heybeliada, aber natürlich sind hier ebenfalls nur Fahrräder und Pferdekutschen unterwegs. Am Hafen gibt es einen richtigen Kutschbahnhof, wo dutzende Gespanne auf Fahrgäste warten. Ich mache mich wieder zu Fuß auf den Weg in höhere Regionen und stoße auf eine zweiten Pferdestation, wo ich auch prompt von einem ausparkenden Fuhrwerk beinahe überrollt werde. Die Kutscher sind wenig zimperlich und läuten lieber stürmisch die Glocke, anstatt ihre Geschwindigkeit zu verringern. Es sind nirgendwo Straßenschilder zu sehen, aber trotz der abschüssigen Straßen und riskanter Überholmanöver scheint der Verkehr reibungslos zu funktionieren.

Überall Pferde

Ich bin auf einer Art Plateu angelangt und mich umgibt ein dichter Kiefernwald. Trampelpfade führen zwischen den Bäumen hindurch, alte Steinmauern durchziehen die Landschaft. In einiger Entfernung befindet sich ein flaches Mauerwerk, das wie eine Gärtnerei aussieht. Und tatsächlich: Mitten im Wald verbirgt sich eine Plantage bodendeckender, großblättriger Kakteen. Ein seltsamer Ort, um Zierpflanzen großzuziehen. Als ich mich zum Gehen wende, regt sich zwischen den Bäumen eine große Gestalt. Es ist ein Schimmel mit Spitzen Ohren, doch in diesem Moment hätte es sich in meinen Augen ebensogut um ein Einhorn handeln können.

Beim näheren Hinsehen mache ich noch einen Fuchs und einen Braunen aus, die gleichermaßen friedlich weiden. Es stellt sich heraus, dass Büyükada voller wilder Pferde ist. Ich kann nicht feststellen, ob sie zu alt sind, um für den Kutschverkehr eingesetzt zu werden, oder ob sie sich einfach nur eine Pause verdient haben. Das Inselprinzip scheint für sie perfekt zu funktionieren. Sie können sich so frei bewegen, wie sie möchten, und geraten trotzdem niemals aus dem Blickfeld. Dem geschirrtragenden Pferd, das verlassen auf einem alten Fußballfeld zwischen verrosteten Torstangen und dürrer Erde nach frischen Grashalmen sucht, wird nicht ganz so viel Freiheit zuteil. Kinder drängen sich an den Zaun des Sportplatzes und ihre Mutter macht Fotos.

Ich mache mich wieder auf den Weg in Richtung Zivilisation und komme an einem Hügel an, von dem man über die Häuser der Stadt aufs Meer blicken kann. Am Horizont tümmeln sich unzählige Dampfer, die regungslos auf dem Wasser verharren zu scheinen. Zehntausende Schiffe durchqueren jährlich die gefährliche Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, darunter viele Tanker aus Russland, die wertvolles Erdöl und Erdgas transportieren. Doch die Wasserstraße entwickelt sich zunehmend zu einem Nadelöhr, das dieses Verkehrsaufkommen nicht mehr bewältigen kann. Zum internationalen Schiffsverkehr kommen nämlich noch die Stadtdampfer hinzu, die den Bosporus täglich rund eintausend Mal überqueren und 1,5 Millionen Passagiere transportieren.

Einer davon bin ich, der sich gerade rechtzeitig wieder auf den Rückweg macht. Das Wetter wird zunehmend ungemütlicher und die Stadt verbirgt sich hinter dichtem Nebel. Im Inneren der Fähre wird es wieder eng und jedes Mal, wenn die Tür nach draußen geöffnet wird, schneidet ein eisiger Luftzug durch den Raum. Bevor ich wieder im Hostel ankomme, fängt es an zu regnen. Ich eile zu meiner Unterkunft und komme gerade noch an, ohne wirklich nass zu werden. Innerhalb weniger Tage hat sich Istanbul vom sommerlichen Urlaubsparadies in das spätwinterliche Trübsal verwandelt, dem ich gerade erst entflohen bin. Dafür habe ich jetzt endlich einen Grund, mich dem Pflichtprogramm meines Aufenthalts zu widmen: Den Sehenswürdigkeiten.

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Florian Lehmuth
18. Juli 2013
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