Proudly made on earth

Ich war davor noch nie in Istanbul (4/4)

Istanbul 55

Mir bleiben drei Tage und es gilt, eine ganze Stadt zu erkunden. Das Träumen vom Inselleben hat ganz schön viel Zeit in Anspruch genommen, aber ich bin froh, dass ich auf Adalar unterwegs war, als das Wetter noch schön war. Die nasskalte Stimmung lädt dazu ein, Zeit im Inneren zu verbringen. Den Anfang macht die Blaue Moschee, wo ich erst im Nieselregen warten muss, um mich dann auf dem kalten Steinboden der Schuhe zu entledigen. Besucher werden nur außerhalb der Gebetszeiten eingelassen, also drängelt sich nun eine Meute Touristen auf dem weichen Teppichboden eines abgesperrten Seitenbereichs, während in der Mitte des Raums eine handvoll Gläubige andächtig niederknien.

Über meinem Kopf erherben sich zahlreiche ineinander verschachtelte Emporen, Spitzbögen und Kuppeln. Die Decken und Wände sind über und über verziert mit Blumenmustern und goldenen Inschriften. Das wenige Licht, das den Innenraum erhellt, fällt durch die bunten Glasscheiben der Fenster und strahlt von den vielen Kronleuchtern, die an langen Seilen an der Decke befestigt sind und nur knapp über Kopfhöhe hängen. An den Betsaal grenzt ein Innenhof, der auf allen Seiten von einem Säulengang gesäumt wird und in seiner Mitte einen sechseckigen Brunnen beherbergt. Die Minarette, die von den Ecken des Hofs aus in die Höhe ragen, lösten bei der Fertigstellung des Bauwerks im siebzehnten Jahrhundert einen Aufschrei in der islamischen Welt aus.

Bis dahin war nämlich die Hauptmoschee in Mekka das einzige Bauwerk, das über sechs Türme verfügte. Erst, nachdem das Gotteshaus in Mekka erweitert worden war, um das Ungleichgewicht wieder aufzuheben, konnte der Streit beigelegt werden. Noch größer als die Blaue ist die Süleymaniye-Moschee, die sich mit vier Minaretten aber an die Norm hält. Sie wird von einem großen Park umgeben, der im Regen jedoch nicht vollständig zur Geltung kommt. Dafür wartet der Innenraum erneut mit prächtigen, orange-rötlichen Verzierungen aus Kalligrafie und symmetrischen Mustern auf. Große Unterschiede im Baustil sind aber nicht zu erkennen.

Zerstörerisches Blitzlicht

Auf der Flucht vor Nässe und Kälte komme ich im Großen Basar unter und verlaufe mich auch gleich zwischen Menschenmassen inmitten der schmalen Gassen. Anders, als ich mir es vorgestellt habe, besteht der Markt nicht aus kleinen Ständen, die von einem bunten Zeltdach überspannt werden, sondern ist in einer riesigen gemauerten Halle untergebracht, die noch aus dem Mittelalter stammt. In 61 Straßen befinden sich rund viertausend moderne Geschäfte, die Kleidungsstücke, Teppiche und kostbaren Schmuck verkaufen. Um Andenken zu erstehen, bin ich hier allerdings an der falschen Adresse, und so lasse ich mich erst gar nicht aufs Feilschen ein.

Am nächsten Tag widme ich mich endlich der Hagia Sophia, an der ich nun schon unzählige Male vorbeigelaufen bin. Die Warteschlange vor dem Eingang ist lang und der Eintritt in die heiligen Hallen, die heute nur noch als Museum genutzt werden, nicht gerade billig. Das Gebäude, das man heute vorfindet, stammt aus dem sechsten Jahrhundert, ist aber bereits die dritte Kirche, die an dieser Stelle errichtet wurde. Mehr als siebenhundert Jahre lang war die Hagia Sophia die größte Kathedrale der Welt. Während sie zu Beginn orthodoxen und katholischen Gläubigen als Gebetsstätte diente, wurde sie mit dem Sieg der Osmanen über das Oströmische Reich zur Moschee umgebaut.

Das alte Gemäuer strahlt eine unheimliche Faszination aus und zieht mich mit einer Mischung aus islamischer Symbolik und christlichen Mosaiken, die beim Umbau verschont blieben, stundenlang in seinen Bann. Deutlich sichtbar sind aber auch die Spuren, die die Zeit an einst glanzvollen Fresken hinterlassen hat. In regelmäßigen Abständen flammt gleißendes Blitzlicht auf und droht, die Reste der antiken Kunstwerke weiter zu zerstören. »No flash!« tönt es sogleich von einem der Wächter, die den ganzen Tag von Besuchern in Atem gehalten werden, die ihre Kameras nicht richtig bedienen können oder wollen. Währenddessen ist der linke Flügel der Kathedrale von einem breiten Gerüst eingezäunt, wo Restauratoren damit beschäftigt sind, alten Glanz wiederherzustellen.

Türkischer Frühling

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist der Frühling in die Stadt zurückgekehrt. Beim Frühstück beobachte ich zwei Tauben, die sich vor dem Fenster auf einer Stromleitung niedergelassen haben, und die Sonne scheint mir versöhnlich entgegen. Zwischen Baukränen hindurch sieht man auf die andere Seite des Goldenen Horns, wo zwei Kreuzfahrtschiffe vor Anker liegen und dahinter das Häusermeer von Beyoğlu beginnt. Mein Weg führt durch den Gülhane-Park zum Topkapı-Palast, der letzten Station meiner Reise. Jahrhundertelang war dieser Gebäudekomplex Regierungssitz der Sultane, die von hoch oben auf das Meer, die Stadt und ihr Volk herabblicken konnten. Heute werden in mehreren Museen die Waffen-, Kleider- und Porzellansammlungen der osmanischen Herrscher ausgestellt.

An meinem letzten Abend leuchtet das Meer unter mir in bedrohlichem Grün, als ich ein weiteres Mal die Galata-Brücke überquere. Ich laufe die überfüllte İstiklal-Straße vom Tünel-Bahnhof bis zum Taksim-Platz entlang und werde mehrmals von der alten Straßenbahn überholt, die sich mühsam ihren Weg durch die Menge bahnt. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein, es steht ein Heimspiel zwischen Galatasaray und Real Madrid an und in der ganzen Stadt herrscht ausgelassene Stimmung. Ein paar Fußballfans fangen an zu singen und bald zieht ein immer größer werdender Sprechchor durch die Fußgängerzone. Ich drücke gerade rechtzeitig ab, als ein paar Leute Bengalisches Feuer entzünden und friedlich durch die Straße tanzen.

Genau sieben Wochen, nachdem ich dieses Foto aufgenommen habe, beginnt eine kleine Gruppe von Umweltschützern einen Sitzstreik im Gezi-Park. Sie protestieren gegen ein geplantes Bauvorhaben, das die Zerstörung der letzten bedeutenden Grünflache in der Innenstadt zur Folge haben soll. Nach wenigen Tagen geht die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor und versucht, den Park zu räumen. Die extreme Härte des Polizeieinsatzes schockiert die Öffentlichkeit, Zehntausende strömen auf den Taksim-Platz und setzen den Auftakt für die größten Proteste, die die Türkei seit Jahrzehnten erlebt hat. Wochenlang toben die Gefechte zwischen Zivilbevölkerung und Staatsgewalt, bis der Park entgültig geschlossen wird.

Die Auseinandersetzung ist jedoch noch nicht beendet. Eine neue Generation wächst in den Städten der Türkei heran, die kein Verständnis für den zunehmend autoritären Führungsstil ihres Ministerpräsidenten aufbringen kann. Eine Gesellschaft wacht auf und stellt fest, dass sie von der herrschenden Klasse nicht mehr angemessen vertreten wird. Die Türkei befindet sich in einem großen Umbruch und während ganz Europa in einer Rezession feststeckt, legt die Wirtschaft hier kontinuierlich zu. Mit dem Kampf nach Freiheit entsteht auch ein neues nationales Selbstbewusstsein. Wir dürfen gespannt dabei zusehen, wie dieses Land an seiner Identität festhält, während es im internationalen Wettbewerb eine immer wichtigere Rolle spielt.

Ich werde wiederkommen, das steht fest. Als ich in den Straßen Istanbuls unterwegs war, plagte mich immer wieder ein seltsames Gefühl, als sei ich im Sommer bei unerträglicher Hitze mit fiebrigem Kopf ans Bett gefesselt. Bloße Einbildung, glaube ich. Reiner Unmut darüber, dass ich nur einen winzigen Bruchteil dieser Stadt kennenlernen konnte und die fotografische Ausbeute meinen Erwartungen nicht standhalten kann. Aber ist es nicht schön, dass ich beim nächsten Mal getrost die Pfade der Touristen verlassen und mich in das Leben der Einheimischen stürzen kann? Dass ich dann ganz in die Welt Ohran Pamuks und die Bilder Ara Gülers eintauchen kann? Ich werde wiederkommen.

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Florian Lehmuth
18. Juli 2013
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