Proudly made on earth

Ich war davor noch nie in Budapest (2/2)

Budapest 25

Wie lässt sich das Wesen einer Stadt begreifen? Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt. Seit mehr als zwei Jahren wohne ich in Berlin, doch ich bin mir nicht im Geringsten sicher, dass ich wirklich verstanden habe, was es heißt, in dieser Stadt zu leben. Und doch glaube ich, dass es nur diesen einen Weg geben kann: In einer Stadt leben, versuchen, den Alltag auf die Reihe zu bekommen und sich eine eigene Nische einzurichten. Was das für Städtereisende bedeutet, wie ich auch einer bin, kann ich nicht genau beantworten. Für Touristen wird ein Ort immer anders aussehen als für Einheimische. Aber irgendwie muss es auch möglich sein, von außen einen Teil der Wahrheit zu erhaschen. Warum würden wir sonst überhaupt reisen?

Budapest wirkt auf mich zunächst offen, unkompliziert und bescheiden. Äußerliche Erscheinungen scheinen keine große Rolle zu spielen, dafür begegnen sich die Menschen mit ungewohnter Herzlichkeit. Mut zur Natürlichkeit lautet die Devise, auch wenn das zunächst einmal bedeutet, dass die Stadt oberflächlich betrachtet ziemlich unsexy sein kann. Berlin hat mich zum Glück gelehrt, hinter die Fassade zu blicken, den Charme der kolossalen Ostblockbauten genauso zu würdigen wie die ehemalige Größe der bröckelnden Gründerzeitbauten. Beim näheren Hinsehen ergibt die eklektische Mischung ein spannungsreiches Gesamtbild mit großem Entwicklungspotential.

Im Kreise der hipperen Hauptstadtbewohner munkelt man, dass Budapest wohl bald Berlin als angesagteste Metropole Europas ersetzen könnte. Diesem Trend dürfte die gegenwärtige politische Situation vorerst Aufhalt gebieten, doch aus wirtschaftlicher Sicht spricht nichts gegen einen baldigen Aufstieg zum Mekka der Altbauliebhaber. Die Mietpreise sind unglaublich günstig und an ungenutzten Immobilien oder freien Flächen scheint es nicht zu mangeln. Ein gutes Beispiel dafür sind die Ruinenkneipen, die in baufälligen Gebäuden mitten in der Innenstadt entstanden sind. Sie locken mit einem einzigartigen kreativen Flair, doch als ich mich im Fogasház umsehe, fällt mir als erstes auf, wie viel Platz es hier gibt. Zwei Bars, eine im gut besuchten Innenhof, eine im Inneren neben der Tanzfläche. In den anderen Räumen befinden sich Tischtennisplatten, ein Kinosaal und Spielautomaten im schickem Retrostil. Zu guter Letzt wird im Foyer Pizza verkauft. Die perfekte Bar? Jedenfalls nah dran.

Normalerweise bin ich kein Freund touristischer Aktivitäten. Meine beiden Methoden, um einen neuen Ort kennenzulernen, sind Laufen und Fotografieren. Das Alltagsleben, von dem ich sprach: Wo lässt es sich einfangen, wenn nicht auf der Straße? Und mit welchem Mittel, wenn nicht Straßenfotografie? Doch Budapest überrascht mich; das gewohnte Rezept geht nicht auf. Es gelingt mir nicht, die sozialen Epizentren aufzuspüren. Die überquellenden Straßen, wie ich sie zuletzt in Istanbul erleben durfte, suche ich hier vergebens. Dafür bin ich positiv überrascht, dass ich eine größere Anzahl älterer Menschen zu Gesicht bekomme. Ganz anders Berlin, wo alle unter dreißig zu sein scheinen oder zumindest versuchen, sich dafür auszugeben.

Nachdem ich eine Weile in einsamem Revier unterwegs war, beschließe ich, das volle Programm zu absolvieren. Wenn ich schon fotografisch an meine Grenzen stoße, will ich wenigstens ein guter Tourist sein. Auf zum Burgviertel, eine Gruppe von Hochzeitsgästen vor der Matthiaskirche beobachten und mir das Eintrittsgeld für die Fischerbastei sparen. Mich auf dem Weg zum Burgpalast verlaufen und wieder einmal die dortigen Ausstellungen verpassen, doch dafür in den Genuss steiler Treppen und guter Aussichten kommen. Auf den Gellértberg zur Freiheitsstatue wandern und feststellen, dass es oben nicht viel mehr zu sehen gibt als man von unten erkennen kann.

Die Andrássy út entlanglaufen und nachts am Heldenplatz überstrahlte Langzeitbelichtungen aufnehmen. Mit der ältesten U-Bahn-Linie auf dem europäischen Festland fahren und die holzgetäfelten Bahnhöfe bestaunen. Den skatenden Kids am Deak Ferenc tér zusehen, die Stephans-Basilika besuchen und die zweitgrößte Synagoge der Welt nur von außen begutachten. In der großen Markthalle vorbeischauen und überall auf Salami, Paprika und Matroschkas stoßen. Feststellen, dass das jüdische Viertel mittlerweile zum wichtigsten Ausgehbezirk avanciert hat. Mich über die endlose Kette von Antiquariaten in der Múzeum körút freuen und überlegen, ob sie zusammen mit dem etwas deplatziert wirkenden veganen Restaurant schon ein erstes Anzeichen für Gentrifizierung bedeuteten.

Ein Gebäude sticht die ganze Zeit über hervor und ich glaube fast, dass es sich um das beeindruckendste Stück Architektur handelt, das ich bislang mit eigenen Augen sehen konnte. Es ist das Parlamentsgebäude, mit einem Alter von gut hundert Jahren ein Küken unter den internationalen Wahrzeichen. Die Anleihen an den Houses of Parliament sind offensichtlich, mit dem spannenden Kontrast zwischen hellem Mauerwerk und dunkelroten Ziegeln, der zentralen Kuppel und der malerischen Lage am Donauufer hat der ungarische Architekt sein Vorbild allerdings weit übertroffen. Die Innenräume sind so prunkvoll dekoriert, dass sie jedem Königshaus Konkurrenz machen könnten. Ungewöhnlich für ein Parlament sind auch die Kronjuwelen, die in einem hohen Saal von zwei stoischen Wachen beschützt werden. Dagegen wirkt der Plenarsaal selbst mit seinen schlichten Holzbänken beinahe fehl am Platz.

Nachdem ich mit historischen Fakten überhäuft wurde, ist mir nach einer anderen Art von Bildung zumute. Das Ludwig-Museum für zeitgenössische Kunst hat seine Pforten mittlerweile in einem modernen Kulturkomplex in Pest bezogen. Die Sammlung vereint bekannte Namen aus dem zwanzigsten Jahrhundert wie Picasso, Warhol und Lichtenstein mit mir zuvor völlig unbekannten Vertretern der osteuropäischen Kunstszene. Besonders angetan hat es mir eine Installation des Rumänen Csákány István mit dem Titel Ghost Keeping. Aus Holz hat er einen detailgetreuen, raumfüllenden Nachbau einer Näherei angefertigt. Rings um die Arbeitstische mit Nähmaschinen führen ausgestopfte, aber körperlose Anzüge einen gespenstischen Tanz auf. Eine sehr eindringliche Veranschaulichung ökonomischer Wertschöpfungsketten.

Auch wenn mir schon der Kopf schwirrt, ist das Kulturprogramm noch nicht vorbei. Mit dem Linienbus mache ich einen Abstecher vor die Tore der Stadt, wo man im Memento-Park unzählige obsolet gewordene Denkmäler aus kommunistischer Zeit besichtigen kann. Ein lohnenswerter Abstecher, auch wenn meine einzige Erkenntnis bleibt, dass auch die kommunistische Ikonografie ein unglaublich konservatives bürgerliches Milieu abbildet. An meinem letzten Tag soll es schließlich um physische Wellness gehen, wofür ich einen Abstecher in eines der berühmten Thermalbäder mache. Nach ein paar Stunden bin ich so entspannt, dass mein Körper zu zerfließen scheint, aber auch ziemlich müde. Ob ich ihm Schwefelbad wohl zu viel radioaktive Strahlung abbekommen habe?

Ich hatte eine schöne Woche in Budapest und einen ungewohnt entspannten, aber dennoch abwechslungsreichen Urlaub. Im Nachhinein bin ich trotzdem nicht wirklich zufrieden. Es ist mir nicht gelungen, das vorherrschende Lebensgefühl einzufangen. Ich habe wenig gelernt, was die ungarische Küche, Geschichte oder Kultur betrifft. Vielleicht liegt das aber auch einfach nur daran, dass Budapest meinem eigenen kulturellen Hintergrund zu ähnlich ist, als dass es meine Welt wirklich auf den Kopf stellen könnte. Wahrscheinlich wird mir Europa langsam zu eng und es ist an der Zeit, meine lebenslange Reise auf andere Kontinente auszuweiten. Irgendwo gibt es immer etwas Neues zu entdecken.

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Florian Lehmuth
18. Januar 2014
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