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Ich war davor noch nie in Istanbul (1/4)

Istanbul 01

Wenn Berlin in diesen Tagen schon frühmorgens in goldenem Glanz erstrahlt, fällt es leicht, die winterliche Kältewelle zu vergessen, von der Mitteleuropa noch vor einem Monat überrollt wurde. In dieser Hinsicht möchte ich gerne noch einmal daran erinnern, wie uns bedeckter Himmel, matschiger Schnee und eisige Temperaturen nicht nur äußerlich erschauern ließen, sondern auch psychisch so sehr strapazierten, dass wir alle urlaubsreif waren. Ich beschloss, dem unerträglichen Gejammer ein Ende zu setzen und packte meinen Koffer.

Heraus aus dem Schneesturm, hinein in ein Land, in dem die Sonne immer ein wenig früher auf- und untergeht als hierzulande. In eine Stadt, in der Frühling mehr bedeutet als bunt blühende Tulpen in sattgrünen Parks, nämlich eine allgemeine Aufbruchsstimmung, einen Schwebezustand zwischen osmanischer Tradition und westlichem Fortschrittsdenken. Hinein in die viertgrößte Metropole der Welt und die einzige, die sich über zwei Kontinente erstreckt. Merhaba Istanbul!

Wenn die einleitenden Worte darauf hindeuten, meteorologische Überlegungen hätten bei der Auswahl des Ziels eine Rolle gespielt, ist das natürlich ein Trugschluss. Die Pullover-Temperaturen waren nicht mehr als eine angenehme Begleiterscheinung. Ich kann hingegen nicht leugnen, dass auch politische Faktoren meine Entscheidung beeinflusst haben. Sicher, der Islam gehört zu Deutschland, aber wie sieht eine Moschee eigentlich aus, wenn sie nicht im zweiten Hinterhof eines Wohnhauses versteckt werden muss? Der EU-Beitritt der Türkei wird seit Jahren kontrovers debattiert, aber lohnt es sich nicht gerade deshalb, dem Wesen Europas in seinem Grenzgebiet nachzufühlen? Überschreitet man eine Grenze, wenn man den Bosporus überquert?

Vier Metro-Linien für dreizehn Millionen Menschen

Kurz vor der Abreise stelle ich fest, dass ich deutlich schlechter vorbereitet bin, als ich geplant habe. Die erhebliche Sprachbarriere wird mir erst richtig bewusst, als ich mich bei der Buchung des Hostels für ein Stadtviertel entscheiden muss. Die Aussprache der Umlaute fällt als deutscher Muttersprachler zum Glück nicht schwer, aber wie soll man sich beispielsweise den Unterschied zwischen Karaköy und Kadıköy einprägen? Die Wahl der Unterkunft fällt letztendlich auf das touristische Sultanahmet, für einen ersten Besuch ein guter Ausgangspunkt, da man die Altstadt zu Fuß erkunden kann und per Fähre und Tram vergleichsweise gut an den Rest der Stadt angebunden ist.

Mit dem Verkehr ist es ja überhaupt so eine Sache in Istanbul. Man möchte meinen, dreizehn Millionen Menschen verbinde mehr als nur vier Metro-Linien, aber das ist leider nicht der Fall. Wer allerdings in ein paar Jahren wiederkommt, wird nicht nur das Goldene Horn, sondern auch bald den Bosporus auf Schienen überqueren können. Ich habe mich gefreut, dass immerhin der Atatürk-Flughafen an die U-Bahn angeschlossen ist und man mit nur einem Umstieg auf die Tram in die Innenstadt gelangt. Eine Kuriosität ist das Bezahlsystem: Man kauft nämlich keine Tickets, sondern Jetons, mit denen man Drehkreuze passieren kann. Wenn man die Haltestelle wieder verlässt, verfällt der Wert und man muss den Einheitspreis von drei Lira beim nächsten Mal erneut bezahlen.

Von der Fortbewegung auf der Straße ist abzuraten. Das liegt nicht daran, dass es im Individualverkehr schon einmal etwas ruppig zugeht und rote Ampeln vor allem dann beachtet werden, wenn Blitzanlagen installiert sind. In anderen Ländern funktioniert die Verständigung über Hupsignale schließlich auch tadellos. Allerdings sind die Straßen oftmals so überfüllt, dass man etwa mit Bussen auch zu Fuß Schritt halten kann. Ein guter Grund, auf eine Fahrt mit Metrobussen und auch den Sammeltaxis, über die in Reiseführern umfassend berichtet wird, zu verzichten.

Vorn Teppichgeschäft, hinten Hostel

Ich komme also mit der Straßenbahn an der gewünschten Haltestelle an, als mir bewusst wird, dass ich weder Straßennamen noch Hausnummer des Hostels notiert habe. Diese Art der Adressbezeichnung ist offenbar auch recht neu in der Türkei, denn wo heute auf vielen Häusern rot-weiße und beinahe quadratische Straßenschilder im englischen Stil prangen, hatten die Häuser einst selbst individuelle Namen, die zur Identifizierung dienten. Nach kurzer Suche entdecke ich meine Unterkunft ganz unverhofft dann doch.

Das Gebäude dürfte für viele andere Gäste- und Wohnhäuser stehen, die sich entlang der schmalen Gassen dicht aneinanderdrängen. Vorn Teppichgeschäft, hinten Hostel. Das Haus ist so schmal, dass sich auf jedem Stockwerk nur ein Zimmer befindet. Einen Aufzug gibt es, aber er beginnt erst im zweiten Stock und endet im vorletzten, sodass man dem schmalen Treppenhaus nicht entgeht. Der Rezeptionist spricht nicht nur Englisch, sondern auch gutes Deutsch, und führt mich bereitwillig herum. Auf der Dachterasse wird gefrühstückt, Tee getrunken und gegrillt, umgeben von einer spektakulären Aussicht: Hier die Hagia Sophia, da die Blaue Moschee, dort der Topkapi-Palast, erklärt der Rezeptionist, und meine Augen können ihm so schnell gar nicht folgen.

An meinem ersten Abend regnet es ein wenig, aber es ist so warm, dass ich die Winterjacke getrost auf dem Zimmer lassen kann. Mein erster Weg führt zielstrebig in Richtung Hafen. Der Himmel blickt bedrohlich finster drein, das Wasser leuchtet in magischem Blau, auf der anderen Seite des Goldenen Horns funkelt das lebendige Beyoğlu. Hoch oben thront der Galata-Turm und überblickt die ganze Szenerie. Ich bin angekommen, inmitten von Massen geschäftigt umhereilender Menschen, die alle ein Ziel verfolgen zu scheinen. Mein einziges Bestreben ist es, mich so gut wie möglich in dieser Stadt zu verlieren, dem Leben ihrer Bewohner auf die Spur zu gehen, mich inspirieren und überraschen zu lassen.

An diesem Abend irre ich noch lange umher und schieße vor lauter Begeisterung reihenweise unscharfe Bilder. Schnell verliere ich mich in dem unüberschaubaren Netz verwinkelter Gassen, steige Hügel hinauf und wieder hinunter. Der Geruch nach Sommerregen vermischt sich mit dem Aroma gerösteter Maroni. Auf den Straßen sind sträunende Katzen und einsame Spaziergänger in gleicher Anzahl unterwegs. Als der Regen stärker wird, ziehe ich mich in ein Restaurant zurück und wärme mich mit zuckersüßem, aber köstlichem Apfeltee wieder auf. In der Bar nebenan wird ein Fußballspiel übertragen und die aufgeregten Zuschauer drängen sich bis vor die Tür. Immer wieder ertönt lebhaftes Geschrei.

Am Ende des Tages falle ich todmüde ins Bett. Unter dem offenen Fenster rattert in regelmäßigen Abständen die Straßenbahn vorbei und soll schon frühmorgens vom Weckruf des Muezzin begleitet werden. Selbst die Kombination dieser Geräuschquellen kann mich nicht um den Schlaf bringen. Als ich dann aber am nächsten Tag ans Fenster trete, scheint mir die Sonne direkt ins Gesicht. Und kann es einen besseren Anreiz zum Aufstehen geben als ein Frühstück auf der Dachterasse? Ich bin schon jetzt überzeugt, dass diese Reise ein voller Erfolg werden wird.

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Florian Lehmuth
6. Mai 2013
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