Proudly made on earth

Linguale Identitätskrise

Girl Mouth Tape

CC-BY-NC-ND: Ashley Rose

Ist euch schon mal aufgefallen, wie oft ein extravagantes Wort in einer Unterhaltung, kurz nachdem es zum ersten Mal gefallen ist, ganz selbstverständlich wiederholt wird? Wenn man einmal darauf achtet, könnte einem fast etwas unheimlich werden. Oft wird einem die unbewusst getätigte Redundanz erst ein paar Sekunden danach bewusst, komischerweise scheint aber nie jemand daran Anstoß zu nehmen.

Nun, ich lebe praktisch von diesen Wiederholungen, dem ständigen Wiederkäuen von Wörtern, Phrasen, Sätzen. Ich sauge wie ein rastloser Dämon den sprachlichen Stil aus meinen Mitmenschen, raube ihre Ausdrucksweise, stehle ihre individuelle Form von Kommunikation. Um bestenfalls etwas geringfügig Neues daraus zu gestalten, meistens aber nur, um meine armselige Persönlichkeit mit einem kleinen etwas Eloquenz zu schmücken.

Traurigerweise beschränkt sich diese zwanghafte Verhaltensweise nicht nur auf mündliche Verständigung; wie ein Getriebener durchforste ich manisch alle auch nur ansatzweise interessanten Schriftstücke im großen, weiten Internet und eigne mir ihre verbale Hülle an, nehme die einzigartige Kombination der Wörter in mein eigenes Reservoir der lingualen Expression auf. Wichmanns Überheblichkeit, Winatscheks Euphorie, Freds Idealismus, Mischas Bildsprache – jeder Stil setzt sich tief in meinem Kopf fest, um bei nächstbester Gelegenheit in einem unbändigen Strudel von Sätzen hervorzuquellen.

Und ich kann nicht anders, als mich dafür zu schämen. Wer bin ich, dass ich mir erlauben könnte, anderen Menschen ihre Seele zu entreißen? Wo bleibt meine eigene Leistung, die rechtfertigen würde, dass ich für meine Ausdrucksweise gelobt werde? Wo steckt in all dem denn meine persönliche Identität, falls ich eine solche überhaupt besitze? Erlaubt schon die bloße Mischung, dass man von Eigenständigkeit sprechen könnte? Oder ist es schlichtweg unmöglich, die seit jeher unablässig produzierten Formen von Kultur zu zerstückeln und vermischen, um etwas Neues zu erschaffen?

“Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus”, schrieb Kafka kurz vor seinem Tod. Es dauert eine Weile, bis man vollständig begreift, was er damit sagen wollte.

Florian Lehmuth
11. Dezember 2010
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