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1915: Flackernde Armenieraugen

Ein alter armenischer Mann liegt im Bett und hält sich eine leuchtend rote Nelke vor die Nase.

© Sait Serkan Gurbuz

Die Austreibung gehe nicht vorüber wie ein Erdbeben, das immer noch einen Teil der Menschen und Häuser verschont. Die Austreibung werde so lange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstraße verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres—Ordnung. Alles verlaufe nach einem in den Ministerien von Stambul ausgearbeiteten Plan.

Ter Haigasun, Die vierzig Tage des Musa Dagh

Der Erste Weltkrieg tobte mit voller Wucht, als in der Hauptstadt des Osmanischen Reichs vor aller Öffentlichkeit begann, was viele Historikerinnen* im Nachhinein einen der ersten Genozide zwanzigsten Jahrhunderts nannten.

Unter dem Vorwand, das armenische Volk habe sich mit Russland gegen die Türkinnen verschworen, ließ die neue nationalistische Regierung in Konstantinopel vor genau einhundert Jahren dessen intellektuelle Elite verhaften. Anschließend fiel die allgemeine armenische Bevölkerung gezielten Massakern zum Opfer oder wurde auf Todesmärschen so lange im Kreis durch die Hitze Syriens geführt, bis sie im Staub liegenblieb. Bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen auf diese Weise ermordet worden sein.

Die entvölkerten Dörfer und Städte in Ostanatolien wurden geplündert und neu besiedelt. Sieht man heute auf die Karte, sind die vielzähligen armenischen Ortsnamen fast vollständig verschwunden. Für einen wahrheitsgetreuen Blick in die Geschichte muss man sich woanders umsehen.

Kampf gegen die Übermacht

Die zumindest im deutschsprachigen Raum bekannteste literarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Armenierinnen dürfte Franz Werfels 1933 veröffentlichter Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh sein. Bei einer Reise nach Damaskus traf der Österreicher auf verstümmelte armenische Kinder, die durch den Völkermord ihre Eltern verloren hatten. Tief bewegt und auf der Suche nach Material für ein Buch entdeckte er die Aufzeichnungen eines Pastors aus der Nähe von Antiochia. Dessen armenische Gemeinde hatte sich nicht wie ein Großteil des Volks widerstandslos auf die Verschickungen begeben, sondern erfolgreich gegen die türkischen Aggressorinnen verteidigt.

Werfels Epos spielt rund um den Musa Dagh, auf Deutsch Mosesberg, in dessen Schatten sich sieben armenische Dörfer befinden. Es ist kein Zufall, dass sich neben dem alttestamentarischen Propheten auch die vierzig Tage der Prüfung im Titel verbergen: Der Autor bezieht sich nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf die Mythologie der Armenierinnen als ältestes christliches Volk der Welt. Ein geknechtetes Volk braucht eine Erlösungsfigur, und die kommt in Gestalt von Gabriel Bagadrian. Der Pariser Emigrant hat familiäre Wurzeln in Yoghonoluk, der größten der sieben Ortschaften. Als ihn die Kunde vom drohenden Schicksal der Armenierinnen erreicht, leitet er den Auszug der fünftausend Dörflerinnen auf den Musa Dagh. Auf dem weitläufigen Massiv wird eine provisorische Stadt errichtet, die von ausgeklügelten Befestigungsanlagen umgeben ist. Der Kampf gegen eine schier unvorstellbare Übermacht beginnt.

Querschnitt der armenischen Gesellschaft

Auf fast achthundert Seiten wird die Geschichte aller Geschichten erzählt. Das unvorstellbare Leid, das unvermeidbare Blutvergießen ist auf den Umfang begrenzt, den es braucht, um die angemessene Tiefe zu erzeugen. Den restlichen Raum füllen dutzende fein gezeichnete Charaktere aus, die einen Querschnitt der armenischen Gesellschaft bilden. Tatsächlich urteilte ein armenischer Priester über Werfel, dessen Werk von den Überlebenden des Genozids begeistert aufgenommen wurde: »Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben.« Die größte Errungenschaft des Buches ist es, die armenischen Kämpferinnen so unmittelbar greifbar zu machen, dass sie selbst auf dem Schlachtfeld der türkischen Bestialität in tiefster Menschlichkeit gegenüberstehen.

Die vierzig Tage des Musa Dagh war auch für das jüdische Publikum eine Offenbarung und diente während des Holocausts im Ghetto Bialystok als Inspiration für den organisierten Widerstand. Werfel, selbst Jude, war zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA ausgewandert. Die schreckliche Erfahrung, die sein eigenes Volk machen musste, zeigt sich als Vorahnung in seiner Beschreibung des türkischen Kriegsministers Enver Pascha: »Wäre dieser Mensch dort nur böse, wäre er der Satan. Aber er ist nicht böse und nicht der Satan, er ist kindhaft-sympathisch, dieser große unerbittliche Massenmörder.«

So schnell die Sympathien eines Volks ins Negative umschlagen können, so lange dauert es, alte Freundschaften wieder zu kitten. Hundert Jahre kleinasiatischer Geschichte haben nicht ausgereicht, um Türkinnen und Armenierinnen miteinander zu versöhnen. Im Gegenteil: Als 1923 die moderne Türkei gegründet wurde, waren daran auch Politikerinnen beteiligt, die den Genozid mitverantwortet hatten. Die Regierung bemüht sich also auch deshalb nach wie vor, diesen Teil der türkischen Geschichte zu verschleiern, um nicht in ihrer eigenen Legitimität angezweifelt zu werden.

Dennoch bewegt sich etwas. In der hauptsächlich kurdisch bevölkerten Stadt Diyarbakır wurde die größte armenische Kirche im Nahen Osten wiederaufgebaut, und das obwohl es vor hundert Jahren insbesondere Kurdinnen waren, die die Befehle aus Konstantinopel in die Tat umsetzten. Armenierinnen, die sich ihr ganzes Leben lang für muslimisch oder kurdisch hielten, entdecken die Geschichte ihrer Großeltern neu. Auch in der türkischen Zivilgesellschaft wird die Forderung nach einer offiziellen Aufarbeitung immer lauter.

Das letzte armenische Dorf der Türkei

Zwei, die sich gegen das Vergessen stellen, sind der Fotograf Sait Serkan Gurbuz und die Journalistin Caroline Trent-Gurbuz. Sie haben drei Wochen in Vakıflı verbracht, dem letzten armenischen Dorf der Türkei. Auch wenn sich ihr Reportage-Projekt nicht direkt mit den Ereignissen ab 1915 beschäftigt, ergibt sich der Bezug ganz automatisch: Vakıflı ist eines der sieben Dörfer, über die Franz Werfel schreibt. Die 123 Menschen, die heute noch dort leben, sind teilweise Nachfahrinnen derjenigen Armenierinnen, die damals auf den Mosesberg zogen.

Vakıflı ist wieder einmal vom Aussterben bedroht, doch diesmal gehen die Bewohnerinnen freiwillig. Vor allem Istanbul lockt sie mit Bildungs- und Berufschancen, mit Wohlstand und Kultur. Diejenigen, die bisher geblieben sind, sprechen mit einer ganz besonderen Verbundenheit über ihr Dorf. Falls man den lauten, schmutzigen und überfüllten Straßen der Großstadt entkommen möchte, scheint es kein besseres Ziel zu geben als Vakıflı. Im Kaffeehaus wird hier noch jeden Tag Backgammon gespielt, als sei die Zeit stehengeblieben. In den Zitrushainen wachsen die schönsten sonnenverwöhnten Orangen. Und wenn man weit genug in die Ferne schaut, hinter die bewaldeten Hügel mit den vereinzelten Hausdächern, dann sieht man das Meer.

It doesn’t matter whoever you are, Muslim or Christian. Muslims go this way, Christians go that way, but they end up in the same place, with one God.

Avedis Demirci, Vakıflı

Es ist schwer genug, einem einzigen Menschen in Wort und Bild auch nur annähernd gerecht zu werden. In den vielen Geschichten über die Dorfbewohnerinnen, über ihre Sorgen, Rituale und Wünsche gelingt den beiden Macherinnen nicht nur das; sie schaffen es sogar, die Gemeinschaft als solche lebendig werden zu lassen. Die Bandbreite der Porträts reicht vom ältesten Einwohner bis zur jüngsten, von glücklichen Familien zu Witwen und unfreiwilligen Singles. Die Porträtierten lassen eine bemerkenswerte Nähe zu, sie machen sich verletzlich und wirken gerade dadurch umso würdevoller.

Vorurteile, das wird schnell klar, kann es nur da geben, wo Menschen sich nicht kennen. Ich habe das Gefühl, nun auch ein wenig in Vakıflı zuhause zu sein.

*Dieser Artikel enthält das Generische Femininum; eine einfache Möglichkeit, den gesellschaftlich verankerten Sexismus sichtbar zu machen, der sich eben auch in der Sprache niederschlägt. Zitate sind davon ausgenommen, um den ursprünglichen Kontext nicht zu verfälschen. Dazu gehören auch die Armenieraugen in der Überschrift, die sich auf Werfel beziehen: »Solche Augen haben nur Wesen, die den Kelch bis zur Neige leeren müssen.«
Florian Lehmuth
2. Mai 2015
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