Proudly made on earth

60 Views of New York City

New York ist eine Stadt, die man aus der Ferne lieben muss.

Zugegeben, dein erster Tag wird magisch sein. Du wirst am JFK landen und dich in einen Zug nach Manhattan setzen. Das Dröhnen und Rattern der silbernen Waggons wird dich beeindrucken und du wirst darüber staunen, wie lange die Fahrt dauert. Du hast dir die Stadt nicht so groß vorgestellt, weil sie so dicht bevölkert ist, aber tatsächlich ist sie beides.

Du wirst den Broadway entlanglaufen und dich über die ersten gelben Taxis freuen. In Verbindung mit der Skyline werden sie dir das Gefühl geben, du wärst über ein riesiges Filmset gestolpert. Ein paar Tage später wirst du im Village um die Ecke biegen und Kate Winslet einen dir unbekannten Schauspieler küssen sehen, wieder und wieder, bis die Regisseurin zufrieden ist.

Du wirst die verrücktesten, nettesten, großzügigsten Menschen treffen. Sie werden dich auf ihrer Couch übernachten lassen, dir etwas zu essen anbieten, dir sogar die Aussicht vom Dach zeigen.

Aber all das ändert nichts daran, dass du letztendlich auf dich allein gestellt bist.

Du wirst dich im Central Park wiederfinden, nach Mitternacht, mit deinem Abendessen vor dir: einer Tüte Babykarotten, einem Glas Tomatensoße und ein paar Bagels. Irgendwie wirst du es schaffen, all das mit deinen Händen zu essen, obwohl vor lauter Kälte deine Finger ganz steif sind. Die einzigen Lebewesen in Sichtweite werden Waschbären sein, und für einen Moment wirst du befürchten, deine bescheidene Mahlzeit gegen sie verteidigen zu müssen.

Essen wird ein echtes Problem sein, und wenn du dicht nicht fürs Hungern entscheiden wirst, wirst du viel Zeit im Supermarkt verbringen, immer mit Blick auf die Preisschilder, auf der Suche nach den Produkten, die dein Budget am wenigsten sprengen. Ironischerweise wirst du Stammkunde bei Trader Joe’s werden, weil das in Manhattan der günstigste Laden ist.

Du wirst einem Obdachlosen in die Arme laufen, als du die Tür zum Grand Central öffnest. Er trägt Flipflops, weil jemand seine Schuhe gestohlen hat. Du weißt, dass es sogar in der Welthauptstadt der Millionärinnen Menschen gibt, die weit, weit weniger besitzen als du. Also wirst du ihm einen Dollar geben, oder vielleicht waren es zwei.

Er wird dich anschauen, Verzweiflung wird in seinem Blick liegen, die eisige Luft seine nackten Füße umwehen, und er wird dich nach einem Zwanziger fragen. Du wirst schockiert sein. Im ersten Augenblick wird dir diese Bitte wie pure Undankbarkeit vorkommen. Zwanzig Dollar sind mehr, als du an einem ganzen Tag ausgeben kannst. Aber natürlich trifft ihn keine Schuld. Seine Umstände lassen ihm keine andere Wahl.

Zum ersten Mal wirst du ein Gefühl dafür bekommen, wie groß die Verachtung dieser Stadt für einzelne Menschenleben ist.

Du wirst laufen und laufen und laufen, bis dein Körper keinen einzigen Schritt mehr tun will und deine Schultern dich am liebsten vor Schmerz schreien lassen würden. Du wirst bei jedem Wechsel von einem Hostel zum nächsten deinen Rucksack mit dir herumschleppen müssen, weil es fast so viel wie eine Übernachtung kosten würde, ihn auch nur für ein paar Stunden aufbewahren zu lassen. Und du wirst oft umziehen müssen, weil die Kosten für die Unterkunft mit jedem Tag zu steigen scheinen.

Du wirst jemanden sagen hören: »Es ist eigentlich nicht so schwer, eine Wohnung in Manhattan zu finden. Es ist nur schwer, wenn man nach einer bezahlbaren Wohnung sucht.«

Du wirst gespannt sein auf den Umzug am Saint Patrick’s Day, in der Erwartung, dass Menschenmassen auf den Straßen tanzen und sich in der Öffentlichkeit betrinken werden. Aber wie du feststellen wirst, ist die Veranstaltung ungefähr so aufregend und zivilisiert wie eine Schulaufführung.

Langsam, aber sicher wird dir bewusst werden: Dieser Ort sieht nur von außen nach Spaß aus. In Wirklichkeit nagt er an den Seelen seiner Bewohnerinnen, macht allenthalben Versprechungen und löst sie fast nie ein.

Tage vergehen. Dann Wochen, dann Monate. Du hast es endlich zur Westküste geschafft. Du steigst in ein Flugzeug, es bringt dich auf einen anderen Kontinent.

In all der Zeit hast du die Stadt nie wirklich verlassen. Du kannst deinen Blick nicht abwenden, also schaust du auf großen und kleinen Bildschirmen weiter zu. Du erkennst die Skyline wieder, die dich so oft hypnotisiert hat, wie sie als Kulisse dient für Tragödien und Komödien. Du siehst, wie Leute die Orte besuchen, die du besucht hast, und ihre lachenden Gesichter machen all die Erinnerungen an dein Elend vergessen.

Du beginnst, deine eigenen Bilder durchzugehen. Du stößt auf kleine Details, die dir bisher entgangen sind. Mit so vielen Fotos warst du unzufrieden, als du sie aufgenommen hast, aber nun gefallen dir immer mehr davon. Du entdeckst so viel Schönheit, dass du sprachlos bist.

Du entwickelst Heimweh für einen Ort, der dir nie das Gefühl gegeben hat, dort hinzugehören. Und dann, tausende von Kilometern entfernt, ohne Aussicht auf eine baldige Wiederkehr, stellst du fest, dass es gar nicht erwarten kannst, zurückzukommen.

Florian Lehmuth
1. November 2016
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