Proudly made on earth

Die erste Regel des Smalltalks

Santa Barbara Beach Wooden Stairs

27. Juli 2016

Gewöhnung ist ein seltsames Gut. Sie wirkt immer nur in eine Richtung, nämlich in Richtung Komfort. Es fällt mir schwer, nach dem Aufenthalt im Hostel wieder unter freiem Himmel zu schlafen. Auch wenn es dafür wahrlich schlechtere Orte gibt als Santa Barbara.

In ihren Shorts und Sommerkleidern schenken mir die schlendernden Pärchen auf ihrem Weg von der Boutique zum Restaurant kaum Beachtung. Es liegt ein leichtfüßiges Urlaubsgefühl in der Luft und müsste ich nicht ständig den bleischweren Rucksack mit mir herumschleppen, würde ich mich nur zu gerne davon anstecken lassen. Das ständige Gewicht auf den Schultern ist mit Abstand der schlimmste Teil meines Vagabundendaseins. Die Schmerzen breiten sich über den ganzen Körper aus, machen jeden Schritt zu einer neuen Anstrengung und lähmen meine Gedanken, bis sie nur noch um die Last auf meinem Rücken kreisen und den Weg, der noch vor mir liegt.

Trotzdem schaffe ich es schließlich zu dem Küstenabschnitt, der auf der Karte nur als großes grünes Rechteck eingezeichnet ist. Auf einer großen Tafel wird die Anlage als größter privat finanzierter, öffentlicher Park Amerikas angepriesen.

Bei meiner Ankunft reicht das letzte Licht gerade noch für ein paar Bilder des in tiefdunkles Lila gekleideten Horizonts. Als die Nacht hereinbricht, liege ich in einer hübschen kleinen Mulde, die ringsum von ein paar abgebrochenen Ästen eingegrenzt ist.

Es verwundert mich, dass so viele Menschen die Lautsprecher aufdrehen, um freiwillig zum Klang von Meeresrauschen einzuschlafen. Ich wälze mich im Schlafsack von einer Seite auf die andere und wünschte mir, ich könnte die Umgebungsgeräusche ein wenig leiser stellen. Die Brandung erinnert mich mit ihrem unberechenbaren Rhythmus und ihrer ungeahnten Wucht fortwährend daran, dass ich den Elementen schutzlos ausgeliefert bin.

Trotzdem bleibt eine gewisse Romantik. Nur wenige Meter hinter mir stürzen die Klippen rund zwanzig Meter in die Tiefe. Über mir trotzen ein paar vereinzelte Sterne hartnäckig dem Wokentreiben und der Lichtverschmutzung.

Am nächsten Morgen begrüßt mich ein im Sonnenlicht glitzernder Ozean. Wenn ich gegen Osten blicke, wird das Licht so fahl, dass man meinen könne, die Welt löse sich in der Ferne sanft ins Nichts auf. Ich finde eine gewundene Holztreppe, die hinab zum Strand führt, und laufe auf dem nassen Sand zurück in Richtung Innenstadt. Zwischen den gigantischen Wurzeln eines Feigenbaums, die so weit in die Höhe ragen, dass man in ihrem Schatten ein Zelt verstecken könnte, nehme ich mein Frühstück zu mir. Es gibt Milchreis und Toastbrot mit einer gewöhnungsbedürftigen Gurken-Senf-Paste.

Der Zug hat mehr als zwanzig Minuten Verspätung, aber das stört hier niemanden.

Anders als am Tag zuvor werden die Tickets diesmal schon vor dem Einsteigen kontrolliert. Zur Bestätigung erhalte ich einen kleinen Zettel, auf dem steht, wo ich sitzen darf. Toll, dass ich mir darum keine Gedanken machen muss, finde ich, und ändere meine Meinung ein wenig, als ich sehe, dass der Fensterplatz meiner Zweierreihe schon belegt ist.

Mein Nachbar streckt mir sein Zettelchen mit der Sitzplatznummer entgegen und fragt, was er damit machen soll. Am Vortag wurden in eine Schiene unterhalb der Gepäckablage ähnliche Zettelchen gesteckt zur Bestätigung, dass die Tickets schon kontrolliert wurden. Aber das war ein anderer Zug. Ich weiß es leider nicht, entgegne ich, das ist erst mein zweites Mal Amtrak. Mein Gegenüber meint, bei ihm sei es das vierte Mal, was ich reichlich komisch finde. Laut meiner Schätzung dürfte er schon vor einiger Zeit das Rentenalter erreicht haben.

Ich verstaue meinen Rucksack und schließe das Telefon an die Steckdose an. Kurz darauf kommt der Schaffner vorbei, fragt noch einmal nach unseren Zielorten und bringt die Zettelchen schließlich selbst über den Sitzen an. Convenience ist wieder einmal king.

Ich denke schon, der Smalltalk mit meinem Nebensitzer sei beendet und er würde sich jetzt seinem Buch zuwenden. Doch unser Gespräch fängt gerade erst an. Richard heißt er und ist dreiundsechzig; wegen seiner zerstreuten, langsamen Art gehe ich zunächst fälschlicherweise davon aus, dass wir uns nicht allzu viel zu sagen hätten.

Aber wer hätte gedacht, dass jemand, der in seinem Leben erst vier Mal mit amerikanischen Zügen gefahren ist, auf das Stichwort meiner Herkunft hin sofort von seinem Besuch in Frankfurt erzählt, wo sein Neffe mit Freundin lebt? Das Preisniveau dort betrage ein Viertel von dem der Bay Area. Ich nicke. Dabei denke ich gleichzeitig an die bösen Überraschungen, die ich hier beim Blick auf Preisschilder schon gemacht habe, und das, was mir in San Francisco wohl noch bevorstehen wird.

Auf die karge Landschaft vor dem Fenster deutend frage ich Richard, ob es hier schon immer so trocken gewesen sei. Er erzählt von einem Vorstoß, von dem ich nur erahnen kann, dass es sich dabei um eine einzigartige Grenzüberschreitung in der US-amerikanischen Politik gehandelt haben muss. Privathaushalte in Santa Barbara seien dazu aufgefordert worden, ihren Wasserverbrauch um ein Drittel zu reduzieren. Sein Viertel habe allerdings so viel Wasser gespart, dass die Preise erhöht werden mussten, weil sonst die Stadtbetriebe nicht mehr hätten finanziert werden können.

Richards Augen leuchten, als der das sagt. Er ist offensichtlich jemand, der sich leicht begeistern kann.

So oder so seien die Trockenperioden aber ein ganz normales, wiederkehrendes Phänomen. In einem Biologiekurs habe er die Jahresringe alter Bäume studiert, und da gebe es eben fruchtbare und weniger fruchtbare Abschnitte. Vom Klimawandel hält er nicht besonders viel. Ich bin etwas geschockt, eine solche Einstellung auch bei einer gebildeten Person aus Kalifornien anzutreffen.

Mir fällt die erste Regel des Smalltalks wieder ein: Es darf nur über Uninteressantes gesprochen werden. Politik, Religion und allzu Persönliches sollten zum Beispiel ausgeklammert werden. Ich verkneife mir also eine Frage zum Wahlkampf und bin einigermaßen froh, dass Richard auf seine Familie zu sprechen kommt.

Besonders seiner Schwester scheint er sehr nah zu sein; so gut das eben geht, wenn sie in Frankreich lebt und er an der Westküste der USA. Er ist beeindruckt davon, wie sie mühelos mehrere Fremdsprachen beherrscht, während er nur Englisch kann. Bei all den Familiengeschichten fällt mir erst auf, dass Richard selbst ziemlich einsam zu sein scheint.

Unser Gespräch nimmt an Fahrt auf, als ich erwähne, dass ich nach Südamerika weiterreisen will. Anders als die meisten Amerikanerinnen bricht er daraufhin nicht in Bestürzung aus, sondern berichtet, wie er in den Achtzigern selbst in Chile untwerwegs war. Als Ingenieur sollte er sich um den Bau einer Straße kümmern, oder vielleicht war es eine Brücke. Jedenfalls ging es um den Zugang zu den Minen, die natürlich für beide politische Lager von höchster Bedeutung waren.

Der Diktatur sei er im Alltag nicht begegnet. Nur einmal wollte er am Hafen ein Schiff fotografieren, als sofort ein junger Soldat drohend die Waffe auf ihn richtete. Mit dem Polizeipräsidenten der Stadt habe er sich unterhalten und zu seinem Erstaunen erfahren, dass dieser auch schon unter Allende im Amt war. Wie er das denn geschafft hätte, habe er ihn gefragt.

Der Beamte meinte, er sei strikt unbestechlich—offenbar ein Alleinstellungsmerkmal. Außerdem sei er jederzeit dazu bereit, willkürliche Verhaftungen durchzuführen, wenn ihm die aktuellen Machthaber den Befehl dazu gäben. Aus irgendeinem Grund ist Richard von diesem Opportunismus sichtlich beeindruckt. Er berichtet begeistert, der Oberpolizist habe sich nach der Pensionierung mit einer ganz bescheidenen Wohnung abgefunden.

So sprunghaft er auch davon erzählt, so sehr fasziniert mich Richards Vergangenheit. Er scheint es gleichermaßen zu genießen, in Erinnerungen zu schwelgen. Immer wieder fällt mein Blick auf das Buch, das zwischen uns liegt: Saturn Run von John Sandford. Er hat es kein einziges Mal aufgeschlagen; dafür arbeitet er sich jetzt mit Mäusebissen an einem Sandwich ab.

Wenn ich ihn richtig verstehe, stellt das Ingenieurswesen den Höhepunkt in einer langen Reihe von Jobs dar. Er spricht aber auch davon, vor mehreren Jahrzehnten einmal als Programmierer gearbeitet zu haben, obwohl er davon keinerlei Ahnung gehabt hätte. Durch Angeberei sei er an den Auftrag gelang und habe dann fünf College-Kurse gleichzeitig besuchen müssen, um das nötige Wissen zu erlangen.

Eine Zeit lang habe er auch als Bergführer in den Rockies gearbeitet, bis ihm die Winter ohne Arbeit zu lang wurden. Seine Bürojobs habe er dagegen häufig gewechselt, weil sie ihm zu viel seiner Zeit beanspruchten. Aus Prinzip wolle er nur neun Monate im Jahr arbeiten, um in den restlichen dreien verreisen zu können.

Sie sind ein Mann mit vielen Talenten, stelle ich anerkennend fest. Richard sagt: Ja, heutzutage nennt man es ADHS.

Mangels Ersparnissen sei an Ruhestand erst einmal nicht zu denken; momentan arbeite er daran, den Bildungssektor umzukrempeln. Es scheint ihm aber auch nicht allzu viel auszumachen, diesen Preis zu zahlen, denn die Reisen haben ihm offenbar echte Erfüllung gebracht. Ich schaue zu ihm herüber; er ist ein unscheinbarer, eher klein geratener Mann mit rundlichem Gesicht und eingefallenen Wangen. Er sieht älter aus, als er ist—vielleicht der Preis eines so abenteuerreichen Lebens. Aber wenn er erzählt, von Flugreisen nach Südostasien, als diese noch unerschwinglich waren, von Kreuzfahrten nach Hawaii und übers Mittelmeer, von dem Freund, den er heute besuchen will und zu einer Wanderung von San Diego nach Seattle überreden, dann strahlen seine Augen wie die eines Fünfjährigen an Weihnachten.

Doch dann passiert etwas Seltsames. Je persönlicher seine Geschichten werden, desto größer wird die Distanz zwischen uns.

Ich erfahre, wie seine über alles geliebte Nanny den weltbesten Apfelkuchen für ihn backte. Sie—eine Schwarze, die die Große Depression in der Dust Bowl am eigenen Leib erfahren hatte und nach Kalifornien kam, als dort Leute mit ihrer Hautfarbe noch wesentlich schlimmer diskriminiert wurden—sie backte und backte und backte, einen Apfelkuchen nach dem anderen. Auch, als ihr Richard schon längst erwachsen war. Nana, du solltest dir in deinem Alter nicht mehr so viel Mühe für mich machen, fand er. Ich will dich eines fragen, sagte sie. Backe ich den besten Apfelkuchen, den du je gegessen hast, oder nicht? Er konnte nicht verneinen. Eben, meinte sie, und backte immer weiter.

Die Unterhaltung führt noch tiefer in die Vergangenheit. Als Teenager, vielleicht dreizehn Jahre alt oder vierzehn, wurde Richard von einem älteren Jungen gemobbt. Eines Nachmittags eskalierte die Situation. Richard trieb sich irgendwo in den Hügeln an der Küste herum, als auf ihn geschossen wurde. Er schaffte es nicht nur, aus dem Blickfeld des Angreifers zu entkommen, sondern umrundete ihn sogar und schlich sich von hinten an ihn heran. Mit ungeahnten Kräften überwältigte er den Jungen, der ihm eigentlich überlegen war, und brach sein Gewehr entzwei. Das Gegenüber, dem die Waffe natürlich nicht selbst gehörte, war bleich vor Schreck und stammelte: Mein Vater wird mich dafür umbringen. Dabei habe ich doch nur Spaß gemacht. Ich hätte nie direkt auf dich gezielt!

Richard erzählt das so überzeugend, dass ich ihm glauben muss, und doch kann ich mich nicht in die Situation heineinversetzen. Mir fehlt die Erfahrung ähnlicher Erlebnisse, um seine Kühnheit vollends wertschätzen zu können. Richard wiederum scheint die Vergangenheit wie durch viele trübe Glaskugeln zu betrachten und sie eine nach der anderen mit flüchtigen Blicken abzuhandeln, ohne noch einmal richtig in die Erinnerung eintauchen zu wollen.

In San Luis Obispo endet meine Fahrt. Richard redet immer weiter, während ich schon aufgestanden bin und den Rucksack aus der Gepäckablage zerre.

Er habe einmal einen Engländer in Argentinien kennengelernt und ihn dann in New York auf der Straße wiedergetroffen. Ob das nicht auch uns passieren könnte?

Eine gute Verabschiedung. Vielleicht sehen wir uns in ein paar Tagen in San Francisco, sage ich, und weiß, dass es niemals zu diesem Treffen kommen wird.

Wir geben uns die Hand und bekunden beide, wie interessant unser Gespräch doch war.

Die bewegende Lebensgeschichte verwandelt sich auf einen Schlag zurück in Smalltalk, und als ich auf dem Bahnsteig stehe, habe ich die ersten Details unserer Unterhaltung schon wieder vergessen.

Florian Lehmuth
17. Oktober 2016
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