Eine Fahrt von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Tritt in die Pedale. Unterwegs auf der Route 66, vorbei an den Nationalparks, quer durch New Mexico, Arizona, Utah und Nevada: Ein Erlebnisbericht.


01. Juni 2016 · 60 km

Vor zwei Tagen fiel mir ein, dass ich einfach ein Fahrrad kaufen könnte und dadurch viele meiner Probleme gelöst wären.

Dan und ich waren in der Nähe von Santa Fe unterwegs. Erst bestaunten wir die kegelförmigen Felsformationen im Kasha-Katuwe-Naturschutzgebiet, dann sahen wir uns die Reste indigener Siedlungen am Bandelier National Monument an. Den folgenreichen Beschluss fasste ich, als Dan sein Getriebe von automatisch auf manuell umstellte und wir nach dem Abstecher ins Tal wieder die Schulter des Canyons erklommen. Ich konnte meinen Blick nicht von der monumentalen Landschaft abwenden und wusste in diesem Moment, dass ich unmöglich weiterreisen könnte, ohne einen Abstecher zum Grand Canyon zu machen.

Erodiertes Vulkangestein im Kasha-Katuwe-Naturschutzgebiet

Seit mehr als drei Monaten befand ich mich schon im Land. New York hatte mich überwältigt, im guten wie im schlechten Sinn. Boston war langweilig gewesen, Philadelphia wunderbar chaotisch, DC auf angenehme Weise touristisch. Aber mit jeder weiteren Meile, die ich Richtung Westen zurücklegte, wuchs meine Frustration mit US-amerikanischen Städten. In Detroit hatte ich noch Spaß beim Erkunden von Ruinen. In Chicago schloss ich neue Freundschaften. Aber schon in St. Louis wusste ich nicht mehr recht, was ich mit mir anfangen sollte.

Denver brachte meine Selbstbeherrschung endgültig zum Zusammenbruch. Jeden Morgen sah ich in der Ferne die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains und wusste gleichzeitig, dass sie für mich unerreichbar waren. Ich verbrachte mitunter mehr als die Hälfte des Tages in Bussen und Straßenbahnen, um an der Endhaltestelle einen kurzen Spaziergang im Grünen zu machen.

So schlimm stand es um mich, dass ich nicht einmal das weltberühmte Weed probieren konnte, nach dem die Mile High City in Wirklichkeit benannt sein muss. Während sich der Hostelbetreiber mit seinen durchgehend roten Augen tagelang über die defekte Scheibenwischeranlage seines Teslas beklagte, durchforstete ich ein Vergleichsportal nach dem anderen auf der Suche nach dem billigsten Mietwagen. Anfangs sah es noch so aus, als könnte ich mir ein Auto leisten, wenn ich auch darin schlafen würde. Dann erfuhr ich von den Risikozuschlägen für unter Fünfundzwanzigjährige. Fortan redete ich mir ein, ich hätte es ja aus Prinzip gar nicht dazu kommen lassen, nur zu meiner Unterhaltung die Umwelt zu verpesten.

Ein paar Tage später kam ich in Albuquerque an und plötzlich schien wieder alles möglich. Verantwortlich dafür war natürlich nur Arabella May, die mich mit zu Untergrundkonzerten nahm, mir Gourmetküche aus unscheinbaren Imbissbuden präsentierte und eine Geisterstadt mitten in der Wüste zeigte. Dann entschied sie sich zu einem spontanen Trip nach Mexiko und ich blieb zurück, um mich um ihre Hündin Chispa zu kümmern. Ich konnte kaum mit ihrem Tempo mithalten, wenn sie ihre Runden durch den Park drehte, und machte mir in der Zwischenzeit Gedanken darüber, wie meine Reise weitergehen sollte.

Nach dem Ausflug mit Dan am Montag war klar, dass mein Besuch in den Nationalparks zumindest nicht daran scheitern sollte, dass ich kein Auto besaß. Mit dem Rad dürfte ich es in einer guten Woche zum Grand Canyon schaffen. Dort würde ich mir dann überlegen, ob ich die Fahrt fortsetzen oder in der nächsten Stadt wieder auf den Bus umsteigen wollte. Soweit der Plan. Mir blieb Dienstag, um alle Vorbereitungen zu treffen.

Erstaunlicherweise ließ sich das Fahrrad tatsächlich innerhalb eines Tages auftreiben. Ich griff beim erstbesten, einigermaßen fahrtüchtig wirkenden Modell zu, das ich auf Craigslist fand. Hundert Dollar schien mir ein guter Preis, doch dafür musste ich vom Zentrum Albuquerques bis nach Rio Rancho fahren. Mit dem Bus waren das knapp zwei Stunden, mit dem Fahrrad zurück ganze zwei.

Als ich so am Rio Grande vorbeiglitt, überkam mich das Gefühl, dass ich diesen Moment noch lange in Erinnerung behalten würde. Der Fahrradkauf war eine maximal spontane Angelegenheit gewesen, über Ausrüstung oder genaue Route hatte ich mir noch nicht einmal Gedanken gemacht. So genau wusste ich noch nicht, ob ich mich da gerade in ein spannendes Abenteuer stürzte, oder doch eher auf ein Desaster zusteuerte.

Zumindest der erste Abend stand unter keinem guten Vorzeichen. Obwohl ich sowieso schon sehr spät dran war, als ich auf dem Weg nach Rio Rancho das Haus verließ, vergaß ich, den Schlüssel unter der Fußmatte zu platzieren. Das wäre aber sehr sinnvoll gewesen, denn ich wusste nicht genau, wann Arabella May aus Mexiko zurückkommen würde.

Nun war also Chispa die ganze Zeit über eingesperrt und mir fiel erst im Bus siedend heiß auf, was für einen Unsinn ich veranstaltet hatte. Die ganze Hinfahrt über war ich furchtbar angespannt und erwartete in jedem Moment einen Schwall verständnisloser SMS, wenn Arabella vor der verschlossenen Tür ankommen würde.

Doch es geschah nichts.

Als ich mich dann aufs Rad schwang, war ich schon fast optimistisch. Auf halber Strecke der große Schreck an der Ampel: Arabella war tatsächlich schon um kurz nach acht zurückgekehrt, obwohl sie in ihrer letzen Nachricht von »nighttime« gesprochen hatte. Am Telefon klang sie unbekümmert wie immer und meinte, ich solle mir Zeit lassen. Ich brachte es trotzdem nicht fertig, ihr mitzuteilen, dass ich den Heimweg von einem abgelegenen Vorort aus angetreten war und noch eine ganze Weile unterwegs sein würde.

Sonnenuntergang über dem North Diversion Channel, einer Abzweigung des Rio Grande. Im Hintergrund die Sandia Mountains

Eine Stunde später war ich endlich zurück und Arabella May begrüßte mich entspannt wie immer. Ich hätte mich dagegen gern in einer dunklen Ecke verkrochen und sammelte hastig meine Sachen zusammen, die drinnen wegen des ganzen Stresses noch immer zerstreut herumlagen. Nicht einmal die geplante Flasche Wein hatte ich besorgt, obwohl ich den Besuch im Supermarkt fest eingeplant hatte. Wie immer war mein unbändiger Optimismus schuld an der Misere, und ich war mir sicher, dass meine grenzenlose Selbstüberschätzung irgendwann noch mein Ende sein würde.

Schlussendlich schaffte ich es doch noch zu Walmart, nachdem ich all meinen Kram zusammengepackt hatte. Arabella war wie immer die perfekte Gastgeberin und bot mir wiederholt an, noch eine Nacht zu bleiben. Aber dieses Angebot konnte ich auf keinen Fall annehmen. Allein schon deshalb, weil ich wusste, dass sie ihren Freund Raúl González eingeladen hatte, der kurz darauf auch eintraf. Der Abschied gestaltete sich kurz und schmerzlos, obwohl Raúl González mich damit irritierte, dass er mir noch seine Nummer aufschrieb, für alle Fälle.

Als ich wieder aufs Rad stieg, diesmal mit schwerem Rucksack, zeigte sich mir erstmals, wie anstrengend diese Tour werden würde. Um halb zwölf kam ich endlich bei Walmart an und fand einen Mumienschlafsack und ein Drei-Personen-Zelt für je 25 Dollar. Das Geld auf meinem Konto reichte aber nicht mehr für beides, also entschied ich mich für den Schlafsack—in der Hoffnung, dass es in den nächsten Tagen nicht regnen würde.

Mein Proviant bestand aus fast einem Pfund gekochter Spaghetti, einem halben Kopf Chinakohl und drei sehr reifen Bananen, die ich aber an einen mutmaßlichen Obdachlosen verschenkte. Bei Walmart hatte ich mit meinem dünnen Kontostand noch einen Becher Erdnüsse und einen Liter Tonic Water erstehen können.

Der Weg aus Albuquerque heraus gestaltete sich ziemlich mühsam, was an der ungeahnten Steigung lag. Ein Stück hinter dem Ortsschild entschied ich mich, mein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Durch pures Glück entdeckte ich ein großes, sandiges Grundstück, das ich der Steppenlandschaft mit ihrem vermutlich recht dicht bevölkerten Gebüsch vorzog.

Und dann, kaum zu glauben, stieß ich auf eine Couch, die sich mitten im Sand auf einer kleinen Anhöhe befand. Ringsherum die Reste ausgedehnter Partys. Für mich der perfekte Schlafplatz, und um kurz nach drei (oder war es vier?) machte ich die Augen zu. Zwischendurch begann es ganz leicht zu tröpfeln, aber das ignorierte ich einfach—die richtige Entscheidung.

Unverhoffter Schlafplatz kurz vor der Auffahrt auf die Interstate 40

Am nächsten Tag wachte ich gegen zehn auf. Bis kurz vor zwölf schaffte ich es zu Love’s, einer Raststätte ein Stück die Straße hinauf. Hier rüstete ich mich für die Weiterfahrt mit drei Litern Wasser, vier Bananen und einem Strohhut. Vor dem Gebäude fand ich eine funktionierende Steckdose, sodass ich mein längst leergelaufenes Telefon aufladen konnte. Somit hatte ich zumindest für ein paar Stunden wieder Kontakt zur Außenwelt und konnte mich mit einem Blick auf die Karte neu orientieren.

Weiter ging es entlang der Route 66, die zu meinem Erstaunen und Vorteil eine weniger befahrene, parallel laufende Nebenstrecke besitzt. Für 14 Kilometer sollte ich diesem Weg folgen, um dann nach rechts abzubiegen und einen kleinen Bogen Richtung Nordwesten zu schlagen. Die geplanten 70 Kilometer nach Laguna sollten laut Google Maps knapp vier Stunden dauern, aber mir war von Anfang an klar, dass es in meinem Fall länger dauern würde. Ich rechnete mit dem Doppelten.

Zunächst ging es immer geradeaus. Hin und wieder stieg die Straße leicht an und ließ die Autos am Horizont ins Nichts verschwinden. An der nächsten Kuppe angelangt bekam ich dann wieder einen unverstellten Blick auf die gigantische Gerade, die unerbittlich auf den Horizont zusteuerte.

Endlich erreichte ich den Kreisverkehr, von wo aus es nach rechts weitergehen sollte. Nach ein paar Kilometern dann das Schild: »Entering To’hajiilee.« Meine Aufregung war verständlicherweise groß. Kurz darauf dann die enttäuschende Feststellung, dass die meisten Straßen im Reservat wohl nur aus Sand bestehen.

Einmal dort stehen, wo Walter White von seinem Schicksal eingeholt wird

Ein paar Minuten lang versuchte ich, mein Rad zu schieben, erkannte dann aber zum Glück die Ausweglosigkeit der Situation. Also zum zweiten Mal vorbei an der freundlichen Kuhherde, die nur wegen ihrer Hörner ein ganz klein wenig bedrohlich wirkte. Nach Südosten blickend stellte ich nun fest, dass ein gehöriges Unwetter im Anmarsch war.

Ich versuchte, mich zu beeilen, um so schnell wie möglich zurück zum Kreisverkehr zu gelangen. Dort gab es eine Brücke, wo ich vor dem Gewitter sicher wäre. Mein langsames Tempo sorgte jedoch für zunehmende Frustration. Letztendlich schaffte ich es und fand einen gemütlichen, wenn auch steinharten Unterschlupf in einem Überflutungsgraben. Am Himmel zeichnete sich derweil ein Regenbogen ab.

Eine Filzmatte sorgt mir nun für ansatzweise Polsterung und zwei Vogelnester für Gesellschaft. Es wird zunehmend dunkler, obwohl es noch nicht einmal neun ist. Außerdem tut meine Hand weh vom vielen Schreiben. Ich werde mich hinlegen und hoffentlich früh aufstehen. Gute Nacht.

Florian Lehmuth
26. Dezember 2016
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